Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Köpke folgt ihm dann, indem er vergißt, daß grade in den nächst folgen¬
den Jahren Tiecks lyrische Ueberschwenglichkeit den Gipfel erreichte, daß er die
Sünden, die er hier verspottete in doppeltem Maß begeht. Wenn es augen¬
scheinlich ist, daß Tiecks poetische Richtung aus einer Auflehnung gegen das
Bcrlincrthum hervorging, so darf man nicht vergessen, daß er selbst ein echtes
Berliner Kind war. Was man, und zwar mit Recht, als die charakteristische
Eigenschaft der Romantik darstellt, die Fähigkeit, für die unbegreiflichsten Dinge
lichterloh zu entbrennen und in demselben Augenblick auf diesen Brand den
Sprühregen der Ironie fallen zu lassen, ist eine charakteristische Eigenschaft
des Berlinerthums. Noch ein anderer Punkt, der von großer Wichtigkeit ist,
wenn man sich von Tiecks Deklamationen über die Prosa des Zeitalters gar
zu sehr aufregen läßt. In einer- seiner kritischen Schriften aus dem Jahre
1828 charakterisirt er den Einfluß Schillers als einen dem deutschen Wesen
entgegengesetzten und schädlichen; Schiller habe eine nicht durchweg beifalls¬
würdige, aber doch naturwüchsige, realistische, deutsche Dichtung vorgefunden
und dieser eine ausländische. spanische, romantische entgegengesetzt. Wenn
Tieck bei dieser Gelegenheit seine eigenen und seiner Freunde Sünden dem Dichter
aufbürdet, den er wohl mit dem Verstände, aber nicht mit dem Herzen ehrte,
so ist bei diesem Bekenntniß noch ein zweiter Umstand zu merken: es enthält
Tiecks eigentliche innerste Meinung. Zu der naturwüchsigen deutschen Dichtung
wird in gewissem Sinn selbst -- Kotzebue gerechnet. Tieck war seinem Talent
und seiner ganzen Natur nach Realist, ja Naturalist. Die Principien, die
Romantik, der Katholicismus, der Bund der Kirche mit den Künsten u. s. w-,
das alles war bei ihm ein fremdes Element, dessen Entstehung und Ausbil¬
dung sich trotz des beständigen Wechsels aus der Reihenfolge seiner Schriften
noch ziemlich genau verfolgen läßt. -- S. 2142 erwähnt Koberstein, ohne
später darauf zurückzukommen, ein kleines Trauerspiel: Der Abschied. Auch
Tieck selbst spricht sich ziemlich geringschätzig darüber an5 und offenbar ist es
eine ganz leicht hingeworfene Arbeit. Aber grade darum finde ich in diesen'
kleinen Stück mehr von Tiecks angeborenem realistischen Talent als in den
langen und langweiligen Romanen jener Periode, die angeblich eine höhere
Tendenz verfolgen und doch ganz tief in dem morastigen Boden der damaligen
Romanliteratur wurzeln. Die finstere Stimmung dieses kleinen Nachtstücks ist
brillant ausgemalt, und außer den spätern Märchen, z. B. dem Runenberg,
ist etwa nur die Schlußscene im Abdallah und die große Scene im Blaubart
damit zu vergleichen. -- S. 2143, Man hat später die Art und Weise, wie Wie-
land und Musäus die Volksmärchen behandelten, sehr scharf kritisirt, während man
die Bearbeitungen Tiecks zu rühmen pflegt. Es wäre wichtig, den Unterschied ein¬
mal genauer festzustellen. Ungläubig und reflektirt waren alle drei; ja viel¬
leicht, so seltsam es klingt, war Wieland von ihnen der naivste (man vn-


und Köpke folgt ihm dann, indem er vergißt, daß grade in den nächst folgen¬
den Jahren Tiecks lyrische Ueberschwenglichkeit den Gipfel erreichte, daß er die
Sünden, die er hier verspottete in doppeltem Maß begeht. Wenn es augen¬
scheinlich ist, daß Tiecks poetische Richtung aus einer Auflehnung gegen das
Bcrlincrthum hervorging, so darf man nicht vergessen, daß er selbst ein echtes
Berliner Kind war. Was man, und zwar mit Recht, als die charakteristische
Eigenschaft der Romantik darstellt, die Fähigkeit, für die unbegreiflichsten Dinge
lichterloh zu entbrennen und in demselben Augenblick auf diesen Brand den
Sprühregen der Ironie fallen zu lassen, ist eine charakteristische Eigenschaft
des Berlinerthums. Noch ein anderer Punkt, der von großer Wichtigkeit ist,
wenn man sich von Tiecks Deklamationen über die Prosa des Zeitalters gar
zu sehr aufregen läßt. In einer- seiner kritischen Schriften aus dem Jahre
1828 charakterisirt er den Einfluß Schillers als einen dem deutschen Wesen
entgegengesetzten und schädlichen; Schiller habe eine nicht durchweg beifalls¬
würdige, aber doch naturwüchsige, realistische, deutsche Dichtung vorgefunden
und dieser eine ausländische. spanische, romantische entgegengesetzt. Wenn
Tieck bei dieser Gelegenheit seine eigenen und seiner Freunde Sünden dem Dichter
aufbürdet, den er wohl mit dem Verstände, aber nicht mit dem Herzen ehrte,
so ist bei diesem Bekenntniß noch ein zweiter Umstand zu merken: es enthält
Tiecks eigentliche innerste Meinung. Zu der naturwüchsigen deutschen Dichtung
wird in gewissem Sinn selbst — Kotzebue gerechnet. Tieck war seinem Talent
und seiner ganzen Natur nach Realist, ja Naturalist. Die Principien, die
Romantik, der Katholicismus, der Bund der Kirche mit den Künsten u. s. w-,
das alles war bei ihm ein fremdes Element, dessen Entstehung und Ausbil¬
dung sich trotz des beständigen Wechsels aus der Reihenfolge seiner Schriften
noch ziemlich genau verfolgen läßt. — S. 2142 erwähnt Koberstein, ohne
später darauf zurückzukommen, ein kleines Trauerspiel: Der Abschied. Auch
Tieck selbst spricht sich ziemlich geringschätzig darüber an5 und offenbar ist es
eine ganz leicht hingeworfene Arbeit. Aber grade darum finde ich in diesen'
kleinen Stück mehr von Tiecks angeborenem realistischen Talent als in den
langen und langweiligen Romanen jener Periode, die angeblich eine höhere
Tendenz verfolgen und doch ganz tief in dem morastigen Boden der damaligen
Romanliteratur wurzeln. Die finstere Stimmung dieses kleinen Nachtstücks ist
brillant ausgemalt, und außer den spätern Märchen, z. B. dem Runenberg,
ist etwa nur die Schlußscene im Abdallah und die große Scene im Blaubart
damit zu vergleichen. — S. 2143, Man hat später die Art und Weise, wie Wie-
land und Musäus die Volksmärchen behandelten, sehr scharf kritisirt, während man
die Bearbeitungen Tiecks zu rühmen pflegt. Es wäre wichtig, den Unterschied ein¬
mal genauer festzustellen. Ungläubig und reflektirt waren alle drei; ja viel¬
leicht, so seltsam es klingt, war Wieland von ihnen der naivste (man vn-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0392" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108522"/>
          <p xml:id="ID_1252" prev="#ID_1251" next="#ID_1253"> und Köpke folgt ihm dann, indem er vergißt, daß grade in den nächst folgen¬<lb/>
den Jahren Tiecks lyrische Ueberschwenglichkeit den Gipfel erreichte, daß er die<lb/>
Sünden, die er hier verspottete in doppeltem Maß begeht. Wenn es augen¬<lb/>
scheinlich ist, daß Tiecks poetische Richtung aus einer Auflehnung gegen das<lb/>
Bcrlincrthum hervorging, so darf man nicht vergessen, daß er selbst ein echtes<lb/>
Berliner Kind war. Was man, und zwar mit Recht, als die charakteristische<lb/>
Eigenschaft der Romantik darstellt, die Fähigkeit, für die unbegreiflichsten Dinge<lb/>
lichterloh zu entbrennen und in demselben Augenblick auf diesen Brand den<lb/>
Sprühregen der Ironie fallen zu lassen, ist eine charakteristische Eigenschaft<lb/>
des Berlinerthums. Noch ein anderer Punkt, der von großer Wichtigkeit ist,<lb/>
wenn man sich von Tiecks Deklamationen über die Prosa des Zeitalters gar<lb/>
zu sehr aufregen läßt. In einer- seiner kritischen Schriften aus dem Jahre<lb/>
1828 charakterisirt er den Einfluß Schillers als einen dem deutschen Wesen<lb/>
entgegengesetzten und schädlichen; Schiller habe eine nicht durchweg beifalls¬<lb/>
würdige, aber doch naturwüchsige, realistische, deutsche Dichtung vorgefunden<lb/>
und dieser eine ausländische. spanische, romantische entgegengesetzt. Wenn<lb/>
Tieck bei dieser Gelegenheit seine eigenen und seiner Freunde Sünden dem Dichter<lb/>
aufbürdet, den er wohl mit dem Verstände, aber nicht mit dem Herzen ehrte,<lb/>
so ist bei diesem Bekenntniß noch ein zweiter Umstand zu merken: es enthält<lb/>
Tiecks eigentliche innerste Meinung. Zu der naturwüchsigen deutschen Dichtung<lb/>
wird in gewissem Sinn selbst &#x2014; Kotzebue gerechnet. Tieck war seinem Talent<lb/>
und seiner ganzen Natur nach Realist, ja Naturalist. Die Principien, die<lb/>
Romantik, der Katholicismus, der Bund der Kirche mit den Künsten u. s. w-,<lb/>
das alles war bei ihm ein fremdes Element, dessen Entstehung und Ausbil¬<lb/>
dung sich trotz des beständigen Wechsels aus der Reihenfolge seiner Schriften<lb/>
noch ziemlich genau verfolgen läßt. &#x2014; S. 2142 erwähnt Koberstein, ohne<lb/>
später darauf zurückzukommen, ein kleines Trauerspiel: Der Abschied. Auch<lb/>
Tieck selbst spricht sich ziemlich geringschätzig darüber an5 und offenbar ist es<lb/>
eine ganz leicht hingeworfene Arbeit. Aber grade darum finde ich in diesen'<lb/>
kleinen Stück mehr von Tiecks angeborenem realistischen Talent als in den<lb/>
langen und langweiligen Romanen jener Periode, die angeblich eine höhere<lb/>
Tendenz verfolgen und doch ganz tief in dem morastigen Boden der damaligen<lb/>
Romanliteratur wurzeln. Die finstere Stimmung dieses kleinen Nachtstücks ist<lb/>
brillant ausgemalt, und außer den spätern Märchen, z. B. dem Runenberg,<lb/>
ist etwa nur die Schlußscene im Abdallah und die große Scene im Blaubart<lb/>
damit zu vergleichen. &#x2014; S. 2143, Man hat später die Art und Weise, wie Wie-<lb/>
land und Musäus die Volksmärchen behandelten, sehr scharf kritisirt, während man<lb/>
die Bearbeitungen Tiecks zu rühmen pflegt. Es wäre wichtig, den Unterschied ein¬<lb/>
mal genauer festzustellen. Ungläubig und reflektirt waren alle drei; ja viel¬<lb/>
leicht, so seltsam es klingt, war Wieland von ihnen der naivste (man vn-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0392] und Köpke folgt ihm dann, indem er vergißt, daß grade in den nächst folgen¬ den Jahren Tiecks lyrische Ueberschwenglichkeit den Gipfel erreichte, daß er die Sünden, die er hier verspottete in doppeltem Maß begeht. Wenn es augen¬ scheinlich ist, daß Tiecks poetische Richtung aus einer Auflehnung gegen das Bcrlincrthum hervorging, so darf man nicht vergessen, daß er selbst ein echtes Berliner Kind war. Was man, und zwar mit Recht, als die charakteristische Eigenschaft der Romantik darstellt, die Fähigkeit, für die unbegreiflichsten Dinge lichterloh zu entbrennen und in demselben Augenblick auf diesen Brand den Sprühregen der Ironie fallen zu lassen, ist eine charakteristische Eigenschaft des Berlinerthums. Noch ein anderer Punkt, der von großer Wichtigkeit ist, wenn man sich von Tiecks Deklamationen über die Prosa des Zeitalters gar zu sehr aufregen läßt. In einer- seiner kritischen Schriften aus dem Jahre 1828 charakterisirt er den Einfluß Schillers als einen dem deutschen Wesen entgegengesetzten und schädlichen; Schiller habe eine nicht durchweg beifalls¬ würdige, aber doch naturwüchsige, realistische, deutsche Dichtung vorgefunden und dieser eine ausländische. spanische, romantische entgegengesetzt. Wenn Tieck bei dieser Gelegenheit seine eigenen und seiner Freunde Sünden dem Dichter aufbürdet, den er wohl mit dem Verstände, aber nicht mit dem Herzen ehrte, so ist bei diesem Bekenntniß noch ein zweiter Umstand zu merken: es enthält Tiecks eigentliche innerste Meinung. Zu der naturwüchsigen deutschen Dichtung wird in gewissem Sinn selbst — Kotzebue gerechnet. Tieck war seinem Talent und seiner ganzen Natur nach Realist, ja Naturalist. Die Principien, die Romantik, der Katholicismus, der Bund der Kirche mit den Künsten u. s. w-, das alles war bei ihm ein fremdes Element, dessen Entstehung und Ausbil¬ dung sich trotz des beständigen Wechsels aus der Reihenfolge seiner Schriften noch ziemlich genau verfolgen läßt. — S. 2142 erwähnt Koberstein, ohne später darauf zurückzukommen, ein kleines Trauerspiel: Der Abschied. Auch Tieck selbst spricht sich ziemlich geringschätzig darüber an5 und offenbar ist es eine ganz leicht hingeworfene Arbeit. Aber grade darum finde ich in diesen' kleinen Stück mehr von Tiecks angeborenem realistischen Talent als in den langen und langweiligen Romanen jener Periode, die angeblich eine höhere Tendenz verfolgen und doch ganz tief in dem morastigen Boden der damaligen Romanliteratur wurzeln. Die finstere Stimmung dieses kleinen Nachtstücks ist brillant ausgemalt, und außer den spätern Märchen, z. B. dem Runenberg, ist etwa nur die Schlußscene im Abdallah und die große Scene im Blaubart damit zu vergleichen. — S. 2143, Man hat später die Art und Weise, wie Wie- land und Musäus die Volksmärchen behandelten, sehr scharf kritisirt, während man die Bearbeitungen Tiecks zu rühmen pflegt. Es wäre wichtig, den Unterschied ein¬ mal genauer festzustellen. Ungläubig und reflektirt waren alle drei; ja viel¬ leicht, so seltsam es klingt, war Wieland von ihnen der naivste (man vn-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/392
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/392>, abgerufen am 24.08.2024.