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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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gegen verdient die Kunstform, die Schiller bei der Braut von Messina vor¬
schwebte, eine eingehende Betrachtung. Es handelt sich darum, die Masse, die
doch auch Shakespeare vielfach benutzt, auf eine kunstgemäße Weise in Bewegung
und Handlung zu bringen, d. h. einen Chor aus ästhetisch gruppirten Jndivi'
dum zusammenzusetzen, die in Bewegung und Rhythmus.ein Ganzes darstellen.
Freilich wird diese Individualisirung des Chors nicht dadurch hervorgebracht,
daß man über lyrische Stellen Eigennamen setzt. Man möge mir hier ^
ausnahmsweise -- erlauben, auf den Versuch der Fabler hinzuweisen.
Demnach möchte ich nicht mit Koberstein S. 2106 in der Braut ein bloßes
Herabsinken, im Tell wieder einen zweiten Gipfelpunkt finden: Wallenstein
und Tell werden freilich, wegen der tiefen Durchdringung des Stoffs, für die
Nation Schillers theuerstes Andenken bleiben; was aber die Kunstform be¬
trifft, so ist Tell gegen die drei frühern Stücke kein Fortschritt, wie das schon
Tieck ganz richtig ausgeführt hat.

§ 325. S. 2108. Goethes Arbeiten bis 1 80 5. -- Wenn Goethe
bei der Bearbeitung der Helena an Schiller schreibt: "Das Schöne in der
Lage meiner Heldin zieht mich so an, daß es mich betrübt, wenn ich es zu¬
nächst in eine Fratze verwandeln soll," so protestirt Koberstein S. 2116-1?
gegen dies, wie gegen Schillers Antwort durch Ausrufungszeichen. Und doch
ist der Sinn vollkommen klar. Nach der Faustsage ist Helena ein Teufels-
spuk, eine Fratze, und so trat sie auch wohl in Goethes erster Behandlung
aus; nun aber hat er bei seiner griechischen Bildung diese Episode so poetisch
ausgeführt, daß sie nach seiner Ansicht ein Drama für sich bildet und daß es
ihm leid thut, sie zum Schluß, wie es doch die Sage verlangt, wieder in
einen Teufelsspuck, in eine Fratze aufzulösen, freventlich gewissermaßen, wie
er früher die Proserpina in die geflickte Braut eingeschoben. Diejenigen,
welche in der Helena ein bedeutendes Kunstwerk finden, werden dies Bedauern
theilen; ich muß gestehen, daß ich dramatische Poesie nur da finde, wo wirk¬
liche Gestaltung ist, und daß alles poetische Kostüm mich kalt läßt, wenn ick
weder weiß, wer auf der Bühne steht, noch was auf der Bühne vorgeht-
Wer das bei der Helene weiß, dem ist nur Glück zu wünschen. - Was
die Eugenie betrifft, so hat Goethe selbst den Grund, warum sie auf der
Bühne kein Glück machte, richtig angegeben (S. 2119): "Sie ist eine Kette
von lauter Motiven," das heißt sie hat keinen idealen Inhalt, sie erregt nicht
das Gefühl der Nothwendigkeit.

§ 326. S. 2124. -- Fichte und die Berliner Romantiker.

Mit Recht leitet Koberstein die ersten Lebensäußerungen der neuen Schule
aus Berlin her aus der Reaction gegen den Geist der dortigen Zeitschriften'
die sich in den Kreisen der Rahel u. s. w. sammelte. Wie früh der Cultus
Goethes in diesen Kreisen ausgebildet war, zeigen Veith Briefe an Rahel 1793


gegen verdient die Kunstform, die Schiller bei der Braut von Messina vor¬
schwebte, eine eingehende Betrachtung. Es handelt sich darum, die Masse, die
doch auch Shakespeare vielfach benutzt, auf eine kunstgemäße Weise in Bewegung
und Handlung zu bringen, d. h. einen Chor aus ästhetisch gruppirten Jndivi'
dum zusammenzusetzen, die in Bewegung und Rhythmus.ein Ganzes darstellen.
Freilich wird diese Individualisirung des Chors nicht dadurch hervorgebracht,
daß man über lyrische Stellen Eigennamen setzt. Man möge mir hier ^
ausnahmsweise — erlauben, auf den Versuch der Fabler hinzuweisen.
Demnach möchte ich nicht mit Koberstein S. 2106 in der Braut ein bloßes
Herabsinken, im Tell wieder einen zweiten Gipfelpunkt finden: Wallenstein
und Tell werden freilich, wegen der tiefen Durchdringung des Stoffs, für die
Nation Schillers theuerstes Andenken bleiben; was aber die Kunstform be¬
trifft, so ist Tell gegen die drei frühern Stücke kein Fortschritt, wie das schon
Tieck ganz richtig ausgeführt hat.

§ 325. S. 2108. Goethes Arbeiten bis 1 80 5. — Wenn Goethe
bei der Bearbeitung der Helena an Schiller schreibt: „Das Schöne in der
Lage meiner Heldin zieht mich so an, daß es mich betrübt, wenn ich es zu¬
nächst in eine Fratze verwandeln soll," so protestirt Koberstein S. 2116-1?
gegen dies, wie gegen Schillers Antwort durch Ausrufungszeichen. Und doch
ist der Sinn vollkommen klar. Nach der Faustsage ist Helena ein Teufels-
spuk, eine Fratze, und so trat sie auch wohl in Goethes erster Behandlung
aus; nun aber hat er bei seiner griechischen Bildung diese Episode so poetisch
ausgeführt, daß sie nach seiner Ansicht ein Drama für sich bildet und daß es
ihm leid thut, sie zum Schluß, wie es doch die Sage verlangt, wieder in
einen Teufelsspuck, in eine Fratze aufzulösen, freventlich gewissermaßen, wie
er früher die Proserpina in die geflickte Braut eingeschoben. Diejenigen,
welche in der Helena ein bedeutendes Kunstwerk finden, werden dies Bedauern
theilen; ich muß gestehen, daß ich dramatische Poesie nur da finde, wo wirk¬
liche Gestaltung ist, und daß alles poetische Kostüm mich kalt läßt, wenn ick
weder weiß, wer auf der Bühne steht, noch was auf der Bühne vorgeht-
Wer das bei der Helene weiß, dem ist nur Glück zu wünschen. - Was
die Eugenie betrifft, so hat Goethe selbst den Grund, warum sie auf der
Bühne kein Glück machte, richtig angegeben (S. 2119): „Sie ist eine Kette
von lauter Motiven," das heißt sie hat keinen idealen Inhalt, sie erregt nicht
das Gefühl der Nothwendigkeit.

§ 326. S. 2124. — Fichte und die Berliner Romantiker.

Mit Recht leitet Koberstein die ersten Lebensäußerungen der neuen Schule
aus Berlin her aus der Reaction gegen den Geist der dortigen Zeitschriften'
die sich in den Kreisen der Rahel u. s. w. sammelte. Wie früh der Cultus
Goethes in diesen Kreisen ausgebildet war, zeigen Veith Briefe an Rahel 1793


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[0390] gegen verdient die Kunstform, die Schiller bei der Braut von Messina vor¬ schwebte, eine eingehende Betrachtung. Es handelt sich darum, die Masse, die doch auch Shakespeare vielfach benutzt, auf eine kunstgemäße Weise in Bewegung und Handlung zu bringen, d. h. einen Chor aus ästhetisch gruppirten Jndivi' dum zusammenzusetzen, die in Bewegung und Rhythmus.ein Ganzes darstellen. Freilich wird diese Individualisirung des Chors nicht dadurch hervorgebracht, daß man über lyrische Stellen Eigennamen setzt. Man möge mir hier ^ ausnahmsweise — erlauben, auf den Versuch der Fabler hinzuweisen. Demnach möchte ich nicht mit Koberstein S. 2106 in der Braut ein bloßes Herabsinken, im Tell wieder einen zweiten Gipfelpunkt finden: Wallenstein und Tell werden freilich, wegen der tiefen Durchdringung des Stoffs, für die Nation Schillers theuerstes Andenken bleiben; was aber die Kunstform be¬ trifft, so ist Tell gegen die drei frühern Stücke kein Fortschritt, wie das schon Tieck ganz richtig ausgeführt hat. § 325. S. 2108. Goethes Arbeiten bis 1 80 5. — Wenn Goethe bei der Bearbeitung der Helena an Schiller schreibt: „Das Schöne in der Lage meiner Heldin zieht mich so an, daß es mich betrübt, wenn ich es zu¬ nächst in eine Fratze verwandeln soll," so protestirt Koberstein S. 2116-1? gegen dies, wie gegen Schillers Antwort durch Ausrufungszeichen. Und doch ist der Sinn vollkommen klar. Nach der Faustsage ist Helena ein Teufels- spuk, eine Fratze, und so trat sie auch wohl in Goethes erster Behandlung aus; nun aber hat er bei seiner griechischen Bildung diese Episode so poetisch ausgeführt, daß sie nach seiner Ansicht ein Drama für sich bildet und daß es ihm leid thut, sie zum Schluß, wie es doch die Sage verlangt, wieder in einen Teufelsspuck, in eine Fratze aufzulösen, freventlich gewissermaßen, wie er früher die Proserpina in die geflickte Braut eingeschoben. Diejenigen, welche in der Helena ein bedeutendes Kunstwerk finden, werden dies Bedauern theilen; ich muß gestehen, daß ich dramatische Poesie nur da finde, wo wirk¬ liche Gestaltung ist, und daß alles poetische Kostüm mich kalt läßt, wenn ick weder weiß, wer auf der Bühne steht, noch was auf der Bühne vorgeht- Wer das bei der Helene weiß, dem ist nur Glück zu wünschen. - Was die Eugenie betrifft, so hat Goethe selbst den Grund, warum sie auf der Bühne kein Glück machte, richtig angegeben (S. 2119): „Sie ist eine Kette von lauter Motiven," das heißt sie hat keinen idealen Inhalt, sie erregt nicht das Gefühl der Nothwendigkeit. § 326. S. 2124. — Fichte und die Berliner Romantiker. Mit Recht leitet Koberstein die ersten Lebensäußerungen der neuen Schule aus Berlin her aus der Reaction gegen den Geist der dortigen Zeitschriften' die sich in den Kreisen der Rahel u. s. w. sammelte. Wie früh der Cultus Goethes in diesen Kreisen ausgebildet war, zeigen Veith Briefe an Rahel 1793

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/390>, abgerufen am 24.08.2024.