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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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doch die Idee einer Kunstform hervor, die an die Griechen erinnert und die
den Entwurf der Braut von Messina erklärt. Hätte nicht Schiller das unver¬
gleichliche Talent besessen, jeden Stoff zu vergegenständlichen, so würde die
Art und Weise seiner Production, die von außen nach innen ging, d, h. die
aus einem allgemeinen, unbestimmten, gleichsam musikalischen Eindruck der ge¬
wallten Kunstform den Stoff suchte (man vergleiche seine eigene sehr interes¬
sante Erklärung über sein Schaffen, bei Gelegenheit "der Künstler"), vielleicht zu
eben solchen Verirrungen geführt haben, als es bei der romantischen Schule
geschah. -- Die Aeußerungen Goethes über die ausschließliche Berechtigung
der antiken Kunstform (S. 2077) sind nicht buchstäblich zu nehmen; so be-
sonnen Goethe in der Regel urtheilt, so hat er doch mitunter die Neigung zu
Superlativen; daß seine frühern antiken Werke, namentlich die Iphigenie,
eigentlich deutsch gedacht sind, hat Koberstein selbst vortrefflich erwiesen. Im
Grunde gilt dasselbe von den herrlichen großen Elegien, und namentlich Euphro-
syne würde keineswegs verlieren, wenn man das antike Kostüm etwas mäßi¬
gen wollte. Daß übrigens diese Richtung auss Antike ihn, wie auch Schiller,
mehrfach irre geführt hat, ist nicht zu leugnen.

§. 324. S. 2083. Schillers Dramen seit dem Wallenstein. --
Ueber Schillers Jdealisirung der historischen Stoffe urtheilt Koberstein S. 2087
und 2089 entschieden mißbilligend. Wenn er ihn aber auf das Beispiel
Shakespeares hinweist, der den historischen Stoff treu behandelt habe, so ist
damit für unsre Zeit nicht viel gethan. Die Shakespearesche Form des histo¬
rischen Schauspiels -- die ich, beiläufig, im Verhältniß zu seinen übrigen
Werken nicht so hoch stellen möchte als Tieck -- wird durch unsere Form des
Theaters, gradezu ausgeschlossen, und daß der echte Dramatiker für die Bühne
Ichreiben muß, bedarf doch in unsrer Zeit keines Beweises mehr. So treu
wan sich auch dein Stoffe anschließen mag, so wird doch die Nothwendigkeit
der freien Erfindung dadurch nicht ausgeschlossen; und da der Stoff, nament¬
lich bei der Gelehrsamkeit unseres heutigen Publikums, gegen die Kunstform
sehr spröde ist, so hat das historische Drama sehr erhebliche Uebelstände, und
derjenige Stoff wird der günstigste sein, der dem Dichter die größte Freiheit
laßt. Daß Schiller, als er an den Maltesern arbeitete, erklärte, bei seiner jetzi¬
gen Klarheit würde er den Wallenstein nicht gewählt haben, durfte Koberstein
nicht befremden (S. 2092), da dieser Stoff in der That die beabsichtigte Kunst¬
form nicht ertrug. -- Ueber die Fehler der Braut von Messina stimme ich mit
Koberstein ganz überein, und möchte sogar den von Jakobi angestellten Ver¬
öleich mit dem Alarkos (S. 2100), wie auch die Bemerkungen der allgemeinen
Zutschen Bibliothek über die Tiraden der "Braut" in'Schutz nehmen, insofern
^e geistvollen Bemerkungen und die Gefühlsausbrüche des Chors nicht aus
dem Stoff hervorgehen, sondern ihn gewissermaßen hervorgebracht haben. Da-


Grenzbotm IV. 1359, 48

doch die Idee einer Kunstform hervor, die an die Griechen erinnert und die
den Entwurf der Braut von Messina erklärt. Hätte nicht Schiller das unver¬
gleichliche Talent besessen, jeden Stoff zu vergegenständlichen, so würde die
Art und Weise seiner Production, die von außen nach innen ging, d, h. die
aus einem allgemeinen, unbestimmten, gleichsam musikalischen Eindruck der ge¬
wallten Kunstform den Stoff suchte (man vergleiche seine eigene sehr interes¬
sante Erklärung über sein Schaffen, bei Gelegenheit „der Künstler"), vielleicht zu
eben solchen Verirrungen geführt haben, als es bei der romantischen Schule
geschah. — Die Aeußerungen Goethes über die ausschließliche Berechtigung
der antiken Kunstform (S. 2077) sind nicht buchstäblich zu nehmen; so be-
sonnen Goethe in der Regel urtheilt, so hat er doch mitunter die Neigung zu
Superlativen; daß seine frühern antiken Werke, namentlich die Iphigenie,
eigentlich deutsch gedacht sind, hat Koberstein selbst vortrefflich erwiesen. Im
Grunde gilt dasselbe von den herrlichen großen Elegien, und namentlich Euphro-
syne würde keineswegs verlieren, wenn man das antike Kostüm etwas mäßi¬
gen wollte. Daß übrigens diese Richtung auss Antike ihn, wie auch Schiller,
mehrfach irre geführt hat, ist nicht zu leugnen.

§. 324. S. 2083. Schillers Dramen seit dem Wallenstein. —
Ueber Schillers Jdealisirung der historischen Stoffe urtheilt Koberstein S. 2087
und 2089 entschieden mißbilligend. Wenn er ihn aber auf das Beispiel
Shakespeares hinweist, der den historischen Stoff treu behandelt habe, so ist
damit für unsre Zeit nicht viel gethan. Die Shakespearesche Form des histo¬
rischen Schauspiels — die ich, beiläufig, im Verhältniß zu seinen übrigen
Werken nicht so hoch stellen möchte als Tieck — wird durch unsere Form des
Theaters, gradezu ausgeschlossen, und daß der echte Dramatiker für die Bühne
Ichreiben muß, bedarf doch in unsrer Zeit keines Beweises mehr. So treu
wan sich auch dein Stoffe anschließen mag, so wird doch die Nothwendigkeit
der freien Erfindung dadurch nicht ausgeschlossen; und da der Stoff, nament¬
lich bei der Gelehrsamkeit unseres heutigen Publikums, gegen die Kunstform
sehr spröde ist, so hat das historische Drama sehr erhebliche Uebelstände, und
derjenige Stoff wird der günstigste sein, der dem Dichter die größte Freiheit
laßt. Daß Schiller, als er an den Maltesern arbeitete, erklärte, bei seiner jetzi¬
gen Klarheit würde er den Wallenstein nicht gewählt haben, durfte Koberstein
nicht befremden (S. 2092), da dieser Stoff in der That die beabsichtigte Kunst¬
form nicht ertrug. — Ueber die Fehler der Braut von Messina stimme ich mit
Koberstein ganz überein, und möchte sogar den von Jakobi angestellten Ver¬
öleich mit dem Alarkos (S. 2100), wie auch die Bemerkungen der allgemeinen
Zutschen Bibliothek über die Tiraden der „Braut" in'Schutz nehmen, insofern
^e geistvollen Bemerkungen und die Gefühlsausbrüche des Chors nicht aus
dem Stoff hervorgehen, sondern ihn gewissermaßen hervorgebracht haben. Da-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/389>, abgerufen am 24.08.2024.