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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Das Watt bei Wanger-Oge besteht großentheils aus Sandbänken; doch
findet man auch ganze Strecken, wo der Kiel. d. h. die fette Marscherde, noch
blos liegt -- ein Beweis, daß hier vor Zeiten Marschboden und Festland
war. welches die Stürme abgeschält und stückweise abgeschlagen haben. Auch
bedienen sich die Insulaner dieses Kiels statt des Lehms, und füllen denne
das Fachwerk ihrer Hütten. Um die Ebbezeit wachsen Inseln und Küsten
weit ins Meer Humus; mit der Flut schrumpfen sie plötzlich zusammen. So
ist auch WangevOge wahrend der Ebbe ringsum von einem ungeheuren
Waldgebiet umgeben, und man kann auf den schnell trocknenden Sandbänken
weit hinaus der zurückgezogenen See entgegengehen und die reiche Pflanzen-
und Thierwelt in dem bloßgelegten Meeresschoß durchforschen. Aber wehe
dem Wanderer, der seine Zeit nicht bemißt und von der Flut sich überraschen
läßt! Siehst du dort den dunklen Streif am Horizont, der immer näher
kommt und immer höher steigt? Die weißen Weilcnhäuptcr überstürzen sich,
als wollten sie dich ergreifen. Du fliehst nach dem Lande; aber eine tiefere
Stelle des Watts, welche du vorher noch durchschreiten must, hat plötzlich
von der Seite Wasser bekommen. Wasser vor dir. Wasser hinter dir; du
siehst den Tod vor deinen Augen. In solch peinlicher Klemme ist ein Be¬
kannter von mir gewesen, und nnr die rasche Hilfe einiger Insulaner, die
glücklicherweise zur Hand waren, entriß ihn mitten durch Flut und Wogen¬
gebraus dem nahen Verderben.

In alten Zeiten war Wanger-Oge eine beträchtliche Insel und hatte
eine sichere, von vielen fremden Schiffen besuchte Bucht. Zwei Kirchen er¬
hoben sich, die eine im Norden, die andere im Westen der Insel. Aber die
Stürme aus Nordwest fegten immer mehr Land hinweg; die fruchtbarsten
Strecken sielen der See anheim; auch die Kirche im Norden wurde eine Beute
des wilden Elements. Die im Westen folgte ihr später nach unter der Ne¬
gierung des Fräuleins Maria, jener in Jeverland noch vielgenannten Erbtoch¬
ter aus dem Hause des friesischen Häuptlings Edo Wimmeke. welche vor
ungefähr dreihundert Jahren ihre Herrschaft Jever mit der dazu gehörigen
Insel Wanger-Oge den Grafen von Oldenburg vermachte. Hört man von
diesen untergegangenen Kirchen, so erinnert man sich der uralten, in die Ost¬
see gesunkenen Stadt Vineta auf Usedow, von welcher die Sage geht, daß
ihre Glocken noch im Meere läuten. Infolge der erwähnten Verheerungen
brachen die Wanger-Oger ihre Wohnungen ab, insoweit die See nicht be¬
reits diese Arbeit für sie übernommen hatte, und bauten sich weiter südost-
wärts an. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah man Spuren von alten Häu¬
sern und Brunnen; aus dem halbzerrisseuen Kirchhof starrten lange Zeit
Sargtrümmer und Todtengebeine hervor, bis in der Nacht zum 4. Februar 1826
der Rest des Gottesackers von der Flut hinweggerissen wurde. Graf Jo°


Das Watt bei Wanger-Oge besteht großentheils aus Sandbänken; doch
findet man auch ganze Strecken, wo der Kiel. d. h. die fette Marscherde, noch
blos liegt — ein Beweis, daß hier vor Zeiten Marschboden und Festland
war. welches die Stürme abgeschält und stückweise abgeschlagen haben. Auch
bedienen sich die Insulaner dieses Kiels statt des Lehms, und füllen denne
das Fachwerk ihrer Hütten. Um die Ebbezeit wachsen Inseln und Küsten
weit ins Meer Humus; mit der Flut schrumpfen sie plötzlich zusammen. So
ist auch WangevOge wahrend der Ebbe ringsum von einem ungeheuren
Waldgebiet umgeben, und man kann auf den schnell trocknenden Sandbänken
weit hinaus der zurückgezogenen See entgegengehen und die reiche Pflanzen-
und Thierwelt in dem bloßgelegten Meeresschoß durchforschen. Aber wehe
dem Wanderer, der seine Zeit nicht bemißt und von der Flut sich überraschen
läßt! Siehst du dort den dunklen Streif am Horizont, der immer näher
kommt und immer höher steigt? Die weißen Weilcnhäuptcr überstürzen sich,
als wollten sie dich ergreifen. Du fliehst nach dem Lande; aber eine tiefere
Stelle des Watts, welche du vorher noch durchschreiten must, hat plötzlich
von der Seite Wasser bekommen. Wasser vor dir. Wasser hinter dir; du
siehst den Tod vor deinen Augen. In solch peinlicher Klemme ist ein Be¬
kannter von mir gewesen, und nnr die rasche Hilfe einiger Insulaner, die
glücklicherweise zur Hand waren, entriß ihn mitten durch Flut und Wogen¬
gebraus dem nahen Verderben.

In alten Zeiten war Wanger-Oge eine beträchtliche Insel und hatte
eine sichere, von vielen fremden Schiffen besuchte Bucht. Zwei Kirchen er¬
hoben sich, die eine im Norden, die andere im Westen der Insel. Aber die
Stürme aus Nordwest fegten immer mehr Land hinweg; die fruchtbarsten
Strecken sielen der See anheim; auch die Kirche im Norden wurde eine Beute
des wilden Elements. Die im Westen folgte ihr später nach unter der Ne¬
gierung des Fräuleins Maria, jener in Jeverland noch vielgenannten Erbtoch¬
ter aus dem Hause des friesischen Häuptlings Edo Wimmeke. welche vor
ungefähr dreihundert Jahren ihre Herrschaft Jever mit der dazu gehörigen
Insel Wanger-Oge den Grafen von Oldenburg vermachte. Hört man von
diesen untergegangenen Kirchen, so erinnert man sich der uralten, in die Ost¬
see gesunkenen Stadt Vineta auf Usedow, von welcher die Sage geht, daß
ihre Glocken noch im Meere läuten. Infolge der erwähnten Verheerungen
brachen die Wanger-Oger ihre Wohnungen ab, insoweit die See nicht be¬
reits diese Arbeit für sie übernommen hatte, und bauten sich weiter südost-
wärts an. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah man Spuren von alten Häu¬
sern und Brunnen; aus dem halbzerrisseuen Kirchhof starrten lange Zeit
Sargtrümmer und Todtengebeine hervor, bis in der Nacht zum 4. Februar 1826
der Rest des Gottesackers von der Flut hinweggerissen wurde. Graf Jo°


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[0033] Das Watt bei Wanger-Oge besteht großentheils aus Sandbänken; doch findet man auch ganze Strecken, wo der Kiel. d. h. die fette Marscherde, noch blos liegt — ein Beweis, daß hier vor Zeiten Marschboden und Festland war. welches die Stürme abgeschält und stückweise abgeschlagen haben. Auch bedienen sich die Insulaner dieses Kiels statt des Lehms, und füllen denne das Fachwerk ihrer Hütten. Um die Ebbezeit wachsen Inseln und Küsten weit ins Meer Humus; mit der Flut schrumpfen sie plötzlich zusammen. So ist auch WangevOge wahrend der Ebbe ringsum von einem ungeheuren Waldgebiet umgeben, und man kann auf den schnell trocknenden Sandbänken weit hinaus der zurückgezogenen See entgegengehen und die reiche Pflanzen- und Thierwelt in dem bloßgelegten Meeresschoß durchforschen. Aber wehe dem Wanderer, der seine Zeit nicht bemißt und von der Flut sich überraschen läßt! Siehst du dort den dunklen Streif am Horizont, der immer näher kommt und immer höher steigt? Die weißen Weilcnhäuptcr überstürzen sich, als wollten sie dich ergreifen. Du fliehst nach dem Lande; aber eine tiefere Stelle des Watts, welche du vorher noch durchschreiten must, hat plötzlich von der Seite Wasser bekommen. Wasser vor dir. Wasser hinter dir; du siehst den Tod vor deinen Augen. In solch peinlicher Klemme ist ein Be¬ kannter von mir gewesen, und nnr die rasche Hilfe einiger Insulaner, die glücklicherweise zur Hand waren, entriß ihn mitten durch Flut und Wogen¬ gebraus dem nahen Verderben. In alten Zeiten war Wanger-Oge eine beträchtliche Insel und hatte eine sichere, von vielen fremden Schiffen besuchte Bucht. Zwei Kirchen er¬ hoben sich, die eine im Norden, die andere im Westen der Insel. Aber die Stürme aus Nordwest fegten immer mehr Land hinweg; die fruchtbarsten Strecken sielen der See anheim; auch die Kirche im Norden wurde eine Beute des wilden Elements. Die im Westen folgte ihr später nach unter der Ne¬ gierung des Fräuleins Maria, jener in Jeverland noch vielgenannten Erbtoch¬ ter aus dem Hause des friesischen Häuptlings Edo Wimmeke. welche vor ungefähr dreihundert Jahren ihre Herrschaft Jever mit der dazu gehörigen Insel Wanger-Oge den Grafen von Oldenburg vermachte. Hört man von diesen untergegangenen Kirchen, so erinnert man sich der uralten, in die Ost¬ see gesunkenen Stadt Vineta auf Usedow, von welcher die Sage geht, daß ihre Glocken noch im Meere läuten. Infolge der erwähnten Verheerungen brachen die Wanger-Oger ihre Wohnungen ab, insoweit die See nicht be¬ reits diese Arbeit für sie übernommen hatte, und bauten sich weiter südost- wärts an. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah man Spuren von alten Häu¬ sern und Brunnen; aus dem halbzerrisseuen Kirchhof starrten lange Zeit Sargtrümmer und Todtengebeine hervor, bis in der Nacht zum 4. Februar 1826 der Rest des Gottesackers von der Flut hinweggerissen wurde. Graf Jo°

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/33>, abgerufen am 29.06.2024.