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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Goethe gewachsen ist, darüber kann der Baron Cotta die beste Auskunft geben.
Vor sechzig Jahren bildeten die Freunde der schönen Literatur eine exklusive
Gesellschaft, heute gehört dazu das ganze Volk, Und man begnügt sich nicht,
die unsterblichen Dichtungen jener Tage zu studiren und sie dem Gedächtniß
einzuprägen, man verräth auch ein menschliches Interesse für die Poeten und
ihre Schicksale. Wer irgend im Stande ist, uns über ihr Leben, ihre Ver¬
hältnisse, ihre Ideen einen neuen Aufschluß zu geben, der wird mit dem leb¬
haftesten Danke begrüßt, und der Eifer geht so weit, daß wir in dem kleinen
Leben jener Tage beinahe mehr zu Hause sind, als in den unsrigen. Das ist
keine Romantik, sondern nur die gerechte Anerkennung, daß jene Periode für
unsre Bildung die wichtigste war.

Unsrer schönen Literatur verdanken wir zuerst die Anerkennung des Aus¬
landes. So gleichgiltig sich der patriotische Stolz über diese Anerkennung der
Fremden aussprechen mag, es ist doch von der höchsten Wichtigkeit, denn das
gesunde Selbstgefühl einer Nation, wie eines Individuums, ist nicht ganz un¬
abhängig von dem Umstand, daß sie nicht erst nöthig hat andern gegenüber
ihren Werth zu erweisen. Der Credit hat auch in der moralischen Welt seine
volle Geltung. Im letzten Heft der revue ä<z äeux monclLs gesteht ein geist¬
voller Kritiker zu, die Deutschen hätten in allen wahrhaft geistigen Dingen
die Initiative gehabt. Das ist sogar zu viel gesagt, aber es ist nicht etwa
eine vereinzelte Stimme, sondern eine Meinung, die mehr und mehr Boden
gewinnt. Es ist eben ein Adels- oder Creditbrief.

Die schöne Literatur des vorigen Jahrhunderts hat unter allen geistigen
Bewegungen, welche unser Selbstgefühl und unsre äußere Anerkennung gestei¬
gert haben, den ungeheuern Vorzug, daß sie vereinigt, anstatt zu trennen.
Das ist z. B. ein Vorzug vor der Reformation, die im übrigen den Segen
der spätesten Enkel verdient. Und gerade in ihrer Ferne liegt jetzt ihre ver¬
söhnende Kraft- Als Schiller und Goethe noch lebten, gab es im Lager der
Heiligen Hader und Zwiespalt genug; jetzt steht uns das ganze Zeitalter wie
ein wundervoll einheitliches Gemälde in glänzenden Farben gegenüber. I"
politischer wie in religiöser Hinsicht sind wir leider noch getrennt wie früher,
aber von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, durch alle fünf Welt¬
theile, so weit der uralte germanische Wandertrieb unsre Landsleute zerstreut
hat, fühlt jeder Deutsche sich stolz gehoben, wenn man den Namen Goethes


Goethe gewachsen ist, darüber kann der Baron Cotta die beste Auskunft geben.
Vor sechzig Jahren bildeten die Freunde der schönen Literatur eine exklusive
Gesellschaft, heute gehört dazu das ganze Volk, Und man begnügt sich nicht,
die unsterblichen Dichtungen jener Tage zu studiren und sie dem Gedächtniß
einzuprägen, man verräth auch ein menschliches Interesse für die Poeten und
ihre Schicksale. Wer irgend im Stande ist, uns über ihr Leben, ihre Ver¬
hältnisse, ihre Ideen einen neuen Aufschluß zu geben, der wird mit dem leb¬
haftesten Danke begrüßt, und der Eifer geht so weit, daß wir in dem kleinen
Leben jener Tage beinahe mehr zu Hause sind, als in den unsrigen. Das ist
keine Romantik, sondern nur die gerechte Anerkennung, daß jene Periode für
unsre Bildung die wichtigste war.

Unsrer schönen Literatur verdanken wir zuerst die Anerkennung des Aus¬
landes. So gleichgiltig sich der patriotische Stolz über diese Anerkennung der
Fremden aussprechen mag, es ist doch von der höchsten Wichtigkeit, denn das
gesunde Selbstgefühl einer Nation, wie eines Individuums, ist nicht ganz un¬
abhängig von dem Umstand, daß sie nicht erst nöthig hat andern gegenüber
ihren Werth zu erweisen. Der Credit hat auch in der moralischen Welt seine
volle Geltung. Im letzten Heft der revue ä<z äeux monclLs gesteht ein geist¬
voller Kritiker zu, die Deutschen hätten in allen wahrhaft geistigen Dingen
die Initiative gehabt. Das ist sogar zu viel gesagt, aber es ist nicht etwa
eine vereinzelte Stimme, sondern eine Meinung, die mehr und mehr Boden
gewinnt. Es ist eben ein Adels- oder Creditbrief.

Die schöne Literatur des vorigen Jahrhunderts hat unter allen geistigen
Bewegungen, welche unser Selbstgefühl und unsre äußere Anerkennung gestei¬
gert haben, den ungeheuern Vorzug, daß sie vereinigt, anstatt zu trennen.
Das ist z. B. ein Vorzug vor der Reformation, die im übrigen den Segen
der spätesten Enkel verdient. Und gerade in ihrer Ferne liegt jetzt ihre ver¬
söhnende Kraft- Als Schiller und Goethe noch lebten, gab es im Lager der
Heiligen Hader und Zwiespalt genug; jetzt steht uns das ganze Zeitalter wie
ein wundervoll einheitliches Gemälde in glänzenden Farben gegenüber. I"
politischer wie in religiöser Hinsicht sind wir leider noch getrennt wie früher,
aber von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, durch alle fünf Welt¬
theile, so weit der uralte germanische Wandertrieb unsre Landsleute zerstreut
hat, fühlt jeder Deutsche sich stolz gehoben, wenn man den Namen Goethes


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[0254] Goethe gewachsen ist, darüber kann der Baron Cotta die beste Auskunft geben. Vor sechzig Jahren bildeten die Freunde der schönen Literatur eine exklusive Gesellschaft, heute gehört dazu das ganze Volk, Und man begnügt sich nicht, die unsterblichen Dichtungen jener Tage zu studiren und sie dem Gedächtniß einzuprägen, man verräth auch ein menschliches Interesse für die Poeten und ihre Schicksale. Wer irgend im Stande ist, uns über ihr Leben, ihre Ver¬ hältnisse, ihre Ideen einen neuen Aufschluß zu geben, der wird mit dem leb¬ haftesten Danke begrüßt, und der Eifer geht so weit, daß wir in dem kleinen Leben jener Tage beinahe mehr zu Hause sind, als in den unsrigen. Das ist keine Romantik, sondern nur die gerechte Anerkennung, daß jene Periode für unsre Bildung die wichtigste war. Unsrer schönen Literatur verdanken wir zuerst die Anerkennung des Aus¬ landes. So gleichgiltig sich der patriotische Stolz über diese Anerkennung der Fremden aussprechen mag, es ist doch von der höchsten Wichtigkeit, denn das gesunde Selbstgefühl einer Nation, wie eines Individuums, ist nicht ganz un¬ abhängig von dem Umstand, daß sie nicht erst nöthig hat andern gegenüber ihren Werth zu erweisen. Der Credit hat auch in der moralischen Welt seine volle Geltung. Im letzten Heft der revue ä<z äeux monclLs gesteht ein geist¬ voller Kritiker zu, die Deutschen hätten in allen wahrhaft geistigen Dingen die Initiative gehabt. Das ist sogar zu viel gesagt, aber es ist nicht etwa eine vereinzelte Stimme, sondern eine Meinung, die mehr und mehr Boden gewinnt. Es ist eben ein Adels- oder Creditbrief. Die schöne Literatur des vorigen Jahrhunderts hat unter allen geistigen Bewegungen, welche unser Selbstgefühl und unsre äußere Anerkennung gestei¬ gert haben, den ungeheuern Vorzug, daß sie vereinigt, anstatt zu trennen. Das ist z. B. ein Vorzug vor der Reformation, die im übrigen den Segen der spätesten Enkel verdient. Und gerade in ihrer Ferne liegt jetzt ihre ver¬ söhnende Kraft- Als Schiller und Goethe noch lebten, gab es im Lager der Heiligen Hader und Zwiespalt genug; jetzt steht uns das ganze Zeitalter wie ein wundervoll einheitliches Gemälde in glänzenden Farben gegenüber. I" politischer wie in religiöser Hinsicht sind wir leider noch getrennt wie früher, aber von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, durch alle fünf Welt¬ theile, so weit der uralte germanische Wandertrieb unsre Landsleute zerstreut hat, fühlt jeder Deutsche sich stolz gehoben, wenn man den Namen Goethes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/254>, abgerufen am 28.09.2024.