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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Der Nationalismus.

Der Nationalismus. Von Prof. Rückert in Jena. Leipzig, Hayncl.

Von der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge gibt vielleicht keine histo¬
rische Erscheinung einen so schlagenden Beleg als das Schicksal derjenigen
Auffassung des Christenthums, die man mit dem Namen Rationalismus be¬
zeichnet. Es ist kaum zwei Menschenalter her, daß sie die herrschende Ansicht
aller Gebildeten und Ungebildeten war; nicht blos die Laien waren ihr erge¬
ben, sondern die überwiegende Mehrzahl der Geistlichen; in den meisten Schulen
Wurde sie gelehrt, und vollends in der Literatur betrachtete man jede abwei¬
chende Stimme als einen wunderlichen Einfall, den man nur durch Achsel¬
zucken zu widerlegen habe. Seitdem ist ein vollständiger Umschwung einge¬
treten. Der Rationalismus hat nicht blos auf der Kanzel und den Lehrstühlen
ein Terrain nach dem andern verloren, sondern er ist bei Dichtern und Philo¬
sophen, bei Freunden und Feinden des Christenthums in so schlechten Ruf
gekommen, daß man sich fast schämt sich dazu zu bekennen. Man weiß nicht,
wer weiter in den Jnvectiven gegen diese Glaubensform ging, die Rechtgläu¬
bigen oder die Atheisten.'

Erklärungen finden sich freilich für jede historische Erscheinung. Zuerst
empörte sich die junge aufkeimende Poesie gegen die Nüchternheit einer Welt¬
anschauung, aus der sie keine Bilder und Symbole nehmen konnte, und die-
ienige Schule, in der sich die Velleitäten der neuen Kunst um so stärker regten,
le geringer ihr wirkliches Vermögen war, brandmarkte die gesammte Auf-
Gärung mit dem Stempel hoffnungslosen Stumpfsinns. Dann erhob sich die
Speculation, die alle Geheimnisse der überirdischen Welt auf dem Wege des
Syllogismus zu erschließen wähnte, und es dem alten Glaubenssystem sehr
verargte, daß es diese Geheimnisse als etwas Gleichgiltiges bei Seite liegen
^eß. In den französischen Kriegen erwachte im Volk ein tieferes religiöses
Bedürfniß, man verlangte nach Thatsachen des göttlichen Mitgefühls, mit
welchen der Nationalismus kargte. In der Wissenschaft trat ein strenger
historischer Sinn, eine Kritik ein, der die wohlmeinende Voraussetzung, daß
^ Grund alle vernünftigen Menschen zu allen Zeiten dasselbe gemeint hätten,


Grenzboten IV. 1859. > 16
Der Nationalismus.

Der Nationalismus. Von Prof. Rückert in Jena. Leipzig, Hayncl.

Von der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge gibt vielleicht keine histo¬
rische Erscheinung einen so schlagenden Beleg als das Schicksal derjenigen
Auffassung des Christenthums, die man mit dem Namen Rationalismus be¬
zeichnet. Es ist kaum zwei Menschenalter her, daß sie die herrschende Ansicht
aller Gebildeten und Ungebildeten war; nicht blos die Laien waren ihr erge¬
ben, sondern die überwiegende Mehrzahl der Geistlichen; in den meisten Schulen
Wurde sie gelehrt, und vollends in der Literatur betrachtete man jede abwei¬
chende Stimme als einen wunderlichen Einfall, den man nur durch Achsel¬
zucken zu widerlegen habe. Seitdem ist ein vollständiger Umschwung einge¬
treten. Der Rationalismus hat nicht blos auf der Kanzel und den Lehrstühlen
ein Terrain nach dem andern verloren, sondern er ist bei Dichtern und Philo¬
sophen, bei Freunden und Feinden des Christenthums in so schlechten Ruf
gekommen, daß man sich fast schämt sich dazu zu bekennen. Man weiß nicht,
wer weiter in den Jnvectiven gegen diese Glaubensform ging, die Rechtgläu¬
bigen oder die Atheisten.'

Erklärungen finden sich freilich für jede historische Erscheinung. Zuerst
empörte sich die junge aufkeimende Poesie gegen die Nüchternheit einer Welt¬
anschauung, aus der sie keine Bilder und Symbole nehmen konnte, und die-
ienige Schule, in der sich die Velleitäten der neuen Kunst um so stärker regten,
le geringer ihr wirkliches Vermögen war, brandmarkte die gesammte Auf-
Gärung mit dem Stempel hoffnungslosen Stumpfsinns. Dann erhob sich die
Speculation, die alle Geheimnisse der überirdischen Welt auf dem Wege des
Syllogismus zu erschließen wähnte, und es dem alten Glaubenssystem sehr
verargte, daß es diese Geheimnisse als etwas Gleichgiltiges bei Seite liegen
^eß. In den französischen Kriegen erwachte im Volk ein tieferes religiöses
Bedürfniß, man verlangte nach Thatsachen des göttlichen Mitgefühls, mit
welchen der Nationalismus kargte. In der Wissenschaft trat ein strenger
historischer Sinn, eine Kritik ein, der die wohlmeinende Voraussetzung, daß
^ Grund alle vernünftigen Menschen zu allen Zeiten dasselbe gemeint hätten,


Grenzboten IV. 1859. > 16
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[0133] Der Nationalismus. Der Nationalismus. Von Prof. Rückert in Jena. Leipzig, Hayncl. Von der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge gibt vielleicht keine histo¬ rische Erscheinung einen so schlagenden Beleg als das Schicksal derjenigen Auffassung des Christenthums, die man mit dem Namen Rationalismus be¬ zeichnet. Es ist kaum zwei Menschenalter her, daß sie die herrschende Ansicht aller Gebildeten und Ungebildeten war; nicht blos die Laien waren ihr erge¬ ben, sondern die überwiegende Mehrzahl der Geistlichen; in den meisten Schulen Wurde sie gelehrt, und vollends in der Literatur betrachtete man jede abwei¬ chende Stimme als einen wunderlichen Einfall, den man nur durch Achsel¬ zucken zu widerlegen habe. Seitdem ist ein vollständiger Umschwung einge¬ treten. Der Rationalismus hat nicht blos auf der Kanzel und den Lehrstühlen ein Terrain nach dem andern verloren, sondern er ist bei Dichtern und Philo¬ sophen, bei Freunden und Feinden des Christenthums in so schlechten Ruf gekommen, daß man sich fast schämt sich dazu zu bekennen. Man weiß nicht, wer weiter in den Jnvectiven gegen diese Glaubensform ging, die Rechtgläu¬ bigen oder die Atheisten.' Erklärungen finden sich freilich für jede historische Erscheinung. Zuerst empörte sich die junge aufkeimende Poesie gegen die Nüchternheit einer Welt¬ anschauung, aus der sie keine Bilder und Symbole nehmen konnte, und die- ienige Schule, in der sich die Velleitäten der neuen Kunst um so stärker regten, le geringer ihr wirkliches Vermögen war, brandmarkte die gesammte Auf- Gärung mit dem Stempel hoffnungslosen Stumpfsinns. Dann erhob sich die Speculation, die alle Geheimnisse der überirdischen Welt auf dem Wege des Syllogismus zu erschließen wähnte, und es dem alten Glaubenssystem sehr verargte, daß es diese Geheimnisse als etwas Gleichgiltiges bei Seite liegen ^eß. In den französischen Kriegen erwachte im Volk ein tieferes religiöses Bedürfniß, man verlangte nach Thatsachen des göttlichen Mitgefühls, mit welchen der Nationalismus kargte. In der Wissenschaft trat ein strenger historischer Sinn, eine Kritik ein, der die wohlmeinende Voraussetzung, daß ^ Grund alle vernünftigen Menschen zu allen Zeiten dasselbe gemeint hätten, Grenzboten IV. 1859. > 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/133>, abgerufen am 25.08.2024.