Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu dem eigentlichen Gegenstand, indem wir an der Hand des Verfassers im
Uterarische Entwickelung Schellings bis zum Jahr 1803 verfolgen.

Schelling ist 1775 zu Leonberg, einem Städtchen bei Stuttgart geboren;
sein Vater war Diakonus daselbst und wurde bald darauf als Rector der
Klosterschule nach Bebenhausen, dann nach Maulbronn versetzt. Bereits 1790
trat der talentvolle Jüngling in das theologische Stift zu Tübingen em, wo
er sich an zwei ältere Studenten. Hegel und Hölderlin anschloß. Sie
galten in den Augen ihrer Lehrer als hochmüthige Kantianer und ihre Recht¬
gläubigst war mehr als zweifelhaft. Neben Kant wurden namentlich Her¬
der. Lessing und Jacobi studirt; Jacobis Briefe über Spinoza. Herders Geist
der hebräischen Poesie und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts waren
die Quellen, aus welchen 1792 der siebzehnjährige Magister seine lateinische
Dissertation "über den Ursprung des Uebels in der Welt nach Anleitung des
ersten Buchs Mosis" abfaßte. Wir haben an die ähnliche Abhandlung
Schillers erinnert, die kurze Zeit vorher erschienen war. Auch Schelling faßt
jene Erzählung mythisch aus, d. h. als bildliche Darstellung einer allgemeinen
Vernunftwahrheit.

Im folgenden Jahr 1793 schrieb der achtzehnjährige Schelling eine Ab¬
handlung über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der alten
Welt, die in Paulus Memorabilien abgedruckt wurde. Er schloß sich haupt¬
sächlich 5eyne an. der zwei Gattungen des Mythus unterschied: den naiven,
der aus der ursprünglichen Anlage der Volkssprache hervorging, welche bei
dem Mangel an Begriffswörtern nach Bildern greifen mußte, und den künst¬
lichen der Dichter. Es ist richtig, daß Schelling nicht viel Neues hinzugefügt
hat, aber die Klarheit seiner Darstellung verräth in diesem Alter doch em
außerordentliches Talent, welches Noack lebhafter hätte hervorheben sollen.
Daß sich hier schon die ursprüngliche Neigung zeigt, mit der Philosophie in
jener Mitte zwischen Dichtung und Wissenschaft zu verweilen, in welcher sich
Schelling immer bewegt hat, ist vollkommen richtig.

Mittlerweile nahm die deutsche Philosophie einen kühnem Aufschwung.
Reinhold sprach das Bedürfniß eines ersten absoluten Grundsatzes für die
Philosophie aus. welcher bei Kant noch fehle, und ohne welchen doch kein
System denkbar sei und Fichte, der diesen absoluten Grundsatz im Begriff
des Ich. d. h. in der Einheit der Denkenden und des Gedachten zu finden
glaubte, trat mit seinem "Begriff der Wissenschaftslehre" hervor. Die Lecture
dieser kleinen Schrift machte Schelling sofort productiv; bereits un September
1794 erschien seine Abhandlung über die Möglichkeit einer Form der
Philosophie überhaupt. Sie ist freilich nur eineReproduction jener Fich¬
teschen Schrift, aber eine so geistvolle und in der Form unabhängige, daß
sie Fichte selbst höchlich befriedigte. Freilich war es bedenklich, daß Schelling


zu dem eigentlichen Gegenstand, indem wir an der Hand des Verfassers im
Uterarische Entwickelung Schellings bis zum Jahr 1803 verfolgen.

Schelling ist 1775 zu Leonberg, einem Städtchen bei Stuttgart geboren;
sein Vater war Diakonus daselbst und wurde bald darauf als Rector der
Klosterschule nach Bebenhausen, dann nach Maulbronn versetzt. Bereits 1790
trat der talentvolle Jüngling in das theologische Stift zu Tübingen em, wo
er sich an zwei ältere Studenten. Hegel und Hölderlin anschloß. Sie
galten in den Augen ihrer Lehrer als hochmüthige Kantianer und ihre Recht¬
gläubigst war mehr als zweifelhaft. Neben Kant wurden namentlich Her¬
der. Lessing und Jacobi studirt; Jacobis Briefe über Spinoza. Herders Geist
der hebräischen Poesie und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts waren
die Quellen, aus welchen 1792 der siebzehnjährige Magister seine lateinische
Dissertation „über den Ursprung des Uebels in der Welt nach Anleitung des
ersten Buchs Mosis" abfaßte. Wir haben an die ähnliche Abhandlung
Schillers erinnert, die kurze Zeit vorher erschienen war. Auch Schelling faßt
jene Erzählung mythisch aus, d. h. als bildliche Darstellung einer allgemeinen
Vernunftwahrheit.

Im folgenden Jahr 1793 schrieb der achtzehnjährige Schelling eine Ab¬
handlung über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der alten
Welt, die in Paulus Memorabilien abgedruckt wurde. Er schloß sich haupt¬
sächlich 5eyne an. der zwei Gattungen des Mythus unterschied: den naiven,
der aus der ursprünglichen Anlage der Volkssprache hervorging, welche bei
dem Mangel an Begriffswörtern nach Bildern greifen mußte, und den künst¬
lichen der Dichter. Es ist richtig, daß Schelling nicht viel Neues hinzugefügt
hat, aber die Klarheit seiner Darstellung verräth in diesem Alter doch em
außerordentliches Talent, welches Noack lebhafter hätte hervorheben sollen.
Daß sich hier schon die ursprüngliche Neigung zeigt, mit der Philosophie in
jener Mitte zwischen Dichtung und Wissenschaft zu verweilen, in welcher sich
Schelling immer bewegt hat, ist vollkommen richtig.

Mittlerweile nahm die deutsche Philosophie einen kühnem Aufschwung.
Reinhold sprach das Bedürfniß eines ersten absoluten Grundsatzes für die
Philosophie aus. welcher bei Kant noch fehle, und ohne welchen doch kein
System denkbar sei und Fichte, der diesen absoluten Grundsatz im Begriff
des Ich. d. h. in der Einheit der Denkenden und des Gedachten zu finden
glaubte, trat mit seinem „Begriff der Wissenschaftslehre" hervor. Die Lecture
dieser kleinen Schrift machte Schelling sofort productiv; bereits un September
1794 erschien seine Abhandlung über die Möglichkeit einer Form der
Philosophie überhaupt. Sie ist freilich nur eineReproduction jener Fich¬
teschen Schrift, aber eine so geistvolle und in der Form unabhängige, daß
sie Fichte selbst höchlich befriedigte. Freilich war es bedenklich, daß Schelling


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0057" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107643"/>
          <p xml:id="ID_163" prev="#ID_162"> zu dem eigentlichen Gegenstand, indem wir an der Hand des Verfassers im<lb/>
Uterarische Entwickelung Schellings bis zum Jahr 1803 verfolgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_164"> Schelling ist 1775 zu Leonberg, einem Städtchen bei Stuttgart geboren;<lb/>
sein Vater war Diakonus daselbst und wurde bald darauf als Rector der<lb/>
Klosterschule nach Bebenhausen, dann nach Maulbronn versetzt. Bereits 1790<lb/>
trat der talentvolle Jüngling in das theologische Stift zu Tübingen em, wo<lb/>
er sich an zwei ältere Studenten. Hegel und Hölderlin anschloß. Sie<lb/>
galten in den Augen ihrer Lehrer als hochmüthige Kantianer und ihre Recht¬<lb/>
gläubigst war mehr als zweifelhaft. Neben Kant wurden namentlich Her¬<lb/>
der. Lessing und Jacobi studirt; Jacobis Briefe über Spinoza. Herders Geist<lb/>
der hebräischen Poesie und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts waren<lb/>
die Quellen, aus welchen 1792 der siebzehnjährige Magister seine lateinische<lb/>
Dissertation &#x201E;über den Ursprung des Uebels in der Welt nach Anleitung des<lb/>
ersten Buchs Mosis" abfaßte. Wir haben an die ähnliche Abhandlung<lb/>
Schillers erinnert, die kurze Zeit vorher erschienen war. Auch Schelling faßt<lb/>
jene Erzählung mythisch aus, d. h. als bildliche Darstellung einer allgemeinen<lb/>
Vernunftwahrheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_165"> Im folgenden Jahr 1793 schrieb der achtzehnjährige Schelling eine Ab¬<lb/>
handlung über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der alten<lb/>
Welt, die in Paulus Memorabilien abgedruckt wurde. Er schloß sich haupt¬<lb/>
sächlich 5eyne an. der zwei Gattungen des Mythus unterschied: den naiven,<lb/>
der aus der ursprünglichen Anlage der Volkssprache hervorging, welche bei<lb/>
dem Mangel an Begriffswörtern nach Bildern greifen mußte, und den künst¬<lb/>
lichen der Dichter. Es ist richtig, daß Schelling nicht viel Neues hinzugefügt<lb/>
hat, aber die Klarheit seiner Darstellung verräth in diesem Alter doch em<lb/>
außerordentliches Talent, welches Noack lebhafter hätte hervorheben sollen.<lb/>
Daß sich hier schon die ursprüngliche Neigung zeigt, mit der Philosophie in<lb/>
jener Mitte zwischen Dichtung und Wissenschaft zu verweilen, in welcher sich<lb/>
Schelling immer bewegt hat, ist vollkommen richtig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_166" next="#ID_167"> Mittlerweile nahm die deutsche Philosophie einen kühnem Aufschwung.<lb/>
Reinhold sprach das Bedürfniß eines ersten absoluten Grundsatzes für die<lb/>
Philosophie aus. welcher bei Kant noch fehle, und ohne welchen doch kein<lb/>
System denkbar sei und Fichte, der diesen absoluten Grundsatz im Begriff<lb/>
des Ich. d. h. in der Einheit der Denkenden und des Gedachten zu finden<lb/>
glaubte, trat mit seinem &#x201E;Begriff der Wissenschaftslehre" hervor. Die Lecture<lb/>
dieser kleinen Schrift machte Schelling sofort productiv; bereits un September<lb/>
1794 erschien seine Abhandlung über die Möglichkeit einer Form der<lb/>
Philosophie überhaupt. Sie ist freilich nur eineReproduction jener Fich¬<lb/>
teschen Schrift, aber eine so geistvolle und in der Form unabhängige, daß<lb/>
sie Fichte selbst höchlich befriedigte.  Freilich war es bedenklich, daß Schelling</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0057] zu dem eigentlichen Gegenstand, indem wir an der Hand des Verfassers im Uterarische Entwickelung Schellings bis zum Jahr 1803 verfolgen. Schelling ist 1775 zu Leonberg, einem Städtchen bei Stuttgart geboren; sein Vater war Diakonus daselbst und wurde bald darauf als Rector der Klosterschule nach Bebenhausen, dann nach Maulbronn versetzt. Bereits 1790 trat der talentvolle Jüngling in das theologische Stift zu Tübingen em, wo er sich an zwei ältere Studenten. Hegel und Hölderlin anschloß. Sie galten in den Augen ihrer Lehrer als hochmüthige Kantianer und ihre Recht¬ gläubigst war mehr als zweifelhaft. Neben Kant wurden namentlich Her¬ der. Lessing und Jacobi studirt; Jacobis Briefe über Spinoza. Herders Geist der hebräischen Poesie und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts waren die Quellen, aus welchen 1792 der siebzehnjährige Magister seine lateinische Dissertation „über den Ursprung des Uebels in der Welt nach Anleitung des ersten Buchs Mosis" abfaßte. Wir haben an die ähnliche Abhandlung Schillers erinnert, die kurze Zeit vorher erschienen war. Auch Schelling faßt jene Erzählung mythisch aus, d. h. als bildliche Darstellung einer allgemeinen Vernunftwahrheit. Im folgenden Jahr 1793 schrieb der achtzehnjährige Schelling eine Ab¬ handlung über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der alten Welt, die in Paulus Memorabilien abgedruckt wurde. Er schloß sich haupt¬ sächlich 5eyne an. der zwei Gattungen des Mythus unterschied: den naiven, der aus der ursprünglichen Anlage der Volkssprache hervorging, welche bei dem Mangel an Begriffswörtern nach Bildern greifen mußte, und den künst¬ lichen der Dichter. Es ist richtig, daß Schelling nicht viel Neues hinzugefügt hat, aber die Klarheit seiner Darstellung verräth in diesem Alter doch em außerordentliches Talent, welches Noack lebhafter hätte hervorheben sollen. Daß sich hier schon die ursprüngliche Neigung zeigt, mit der Philosophie in jener Mitte zwischen Dichtung und Wissenschaft zu verweilen, in welcher sich Schelling immer bewegt hat, ist vollkommen richtig. Mittlerweile nahm die deutsche Philosophie einen kühnem Aufschwung. Reinhold sprach das Bedürfniß eines ersten absoluten Grundsatzes für die Philosophie aus. welcher bei Kant noch fehle, und ohne welchen doch kein System denkbar sei und Fichte, der diesen absoluten Grundsatz im Begriff des Ich. d. h. in der Einheit der Denkenden und des Gedachten zu finden glaubte, trat mit seinem „Begriff der Wissenschaftslehre" hervor. Die Lecture dieser kleinen Schrift machte Schelling sofort productiv; bereits un September 1794 erschien seine Abhandlung über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt. Sie ist freilich nur eineReproduction jener Fich¬ teschen Schrift, aber eine so geistvolle und in der Form unabhängige, daß sie Fichte selbst höchlich befriedigte. Freilich war es bedenklich, daß Schelling

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/57
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/57>, abgerufen am 22.07.2024.