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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Mensch und Natur, als dieses Erglühen und dieses Erlöschen des Abendroths
auf den Stirnen der Menschen und der Berge.

Am Morgen sah ich in der Ferne zwischen den Höhen einen See schim¬
mern, von dem die Karte nichts wußte. Ich glaubte zuerst, es sei eine Täu¬
schung der Sinne, dann dachte ich an aussteigende Morgennebel, die häufig
von weitem gesehen als Wasserflächen erscheinen. Auad, der nur seine Dra¬
gomanskünste verstand und außerdem nur noch Gedanken sür den Profit hatte,
den er an uns etwa haben würde, wußte keine Auskunft zu geben. Doch
meinte er, wir würden vor dem Wasser vorbeikommen. Wir ritten zu¬
erst durch ein westlich laufendes Wadi, in dem ein Bach durch einen Oliven-
Wald floß und bogen dann in ein nach Norden abzweigendes, breiteres Sei¬
tenthal ein, durch dessen Grasflächen und Getreidefelder wir nach dem weiten
Kessel kamen, aus welchem mir der zweifelhafte See entgegengeleuchtct hatte.
Wir sahen jetzt, daß es wirklich Wasser war, was die etwa eine Stunde lange
und ungefähr ebenso breite Fläche bedeckte. Ueber demselben lag auf steiler
gelblicher Höhe eine kleine festungsartige Stadt, die unser Führer Sanur
nannte und von der er wissen wollte, sie sei das alte Bcthulia, so daß aus der
Ebne, die der See einnahm, die Geschichte von Judith und Holofernes ge¬
spielt hätte. Wir ließen Leute des Ortes nach dem Wasser fragen und er¬
fuhren, daß es durch die Regengüsse des Winters entstanden sei und in einigen
Wochen verdunstet sein werde.

Von hier ritten wir zuerst durch Getreidefelder, dann durch eine tiefe mit
Lentiscus und Stacheleichen bewachsene Schlucht nachdem großen Dorf Keba-
tijeh hinab, das zum Theil aus Steinhäusern, zum Theil aus kegelförmigen
Lehmhütten besteht. Aus dem Wege trafen wir eine Eiche, an deren Zweig¬
spitzen an hundert Fetzen von Hemden und andern Kleidungsstücken gebunden
waren. Auad wußte wie gewöhnlich nicht, was sie zu bedeuten hatten. Ich
vermuthe, daß der Baum in der Legende eine Stelle einnimmt, und vielleicht
waren die Fetzen eine Art Opfer, oder sie hingen mit einer sympathetischen
Cur zusammen. Von Kebatijeh ists noch eine Stunde bis Dschenin, der
Stadt, welche die Grenze zwischen Samaria und Galiläa bezeichnet. Die
Archäologen suchen hier das Ginaea des Josephus, andere Sunem, wo der
Prophet Elisa den Knaben seiner Wohlthäterin vom Tode erweckte. Der Ort
liegt sehr anmuthig in Maulbeeren- und Granatenpflanzungen, Feigen- und
Orangengärten, die von gelbblühenden Kaktushecken umgeben sind und in
denen sich auch einige Palmen erheben. Ein klarer Bach rinnt durch dieses
kleine Paradies, dessen Schatten uns so unwiderstehlich lockten, daß wir in einem
der Gärten zu rasten beschlossen. Während der Dragoman hier das Frühstück
bereitete, benutzten wir die Gelegenheit zum Baden, welche die hinter dem


Mensch und Natur, als dieses Erglühen und dieses Erlöschen des Abendroths
auf den Stirnen der Menschen und der Berge.

Am Morgen sah ich in der Ferne zwischen den Höhen einen See schim¬
mern, von dem die Karte nichts wußte. Ich glaubte zuerst, es sei eine Täu¬
schung der Sinne, dann dachte ich an aussteigende Morgennebel, die häufig
von weitem gesehen als Wasserflächen erscheinen. Auad, der nur seine Dra¬
gomanskünste verstand und außerdem nur noch Gedanken sür den Profit hatte,
den er an uns etwa haben würde, wußte keine Auskunft zu geben. Doch
meinte er, wir würden vor dem Wasser vorbeikommen. Wir ritten zu¬
erst durch ein westlich laufendes Wadi, in dem ein Bach durch einen Oliven-
Wald floß und bogen dann in ein nach Norden abzweigendes, breiteres Sei¬
tenthal ein, durch dessen Grasflächen und Getreidefelder wir nach dem weiten
Kessel kamen, aus welchem mir der zweifelhafte See entgegengeleuchtct hatte.
Wir sahen jetzt, daß es wirklich Wasser war, was die etwa eine Stunde lange
und ungefähr ebenso breite Fläche bedeckte. Ueber demselben lag auf steiler
gelblicher Höhe eine kleine festungsartige Stadt, die unser Führer Sanur
nannte und von der er wissen wollte, sie sei das alte Bcthulia, so daß aus der
Ebne, die der See einnahm, die Geschichte von Judith und Holofernes ge¬
spielt hätte. Wir ließen Leute des Ortes nach dem Wasser fragen und er¬
fuhren, daß es durch die Regengüsse des Winters entstanden sei und in einigen
Wochen verdunstet sein werde.

Von hier ritten wir zuerst durch Getreidefelder, dann durch eine tiefe mit
Lentiscus und Stacheleichen bewachsene Schlucht nachdem großen Dorf Keba-
tijeh hinab, das zum Theil aus Steinhäusern, zum Theil aus kegelförmigen
Lehmhütten besteht. Aus dem Wege trafen wir eine Eiche, an deren Zweig¬
spitzen an hundert Fetzen von Hemden und andern Kleidungsstücken gebunden
waren. Auad wußte wie gewöhnlich nicht, was sie zu bedeuten hatten. Ich
vermuthe, daß der Baum in der Legende eine Stelle einnimmt, und vielleicht
waren die Fetzen eine Art Opfer, oder sie hingen mit einer sympathetischen
Cur zusammen. Von Kebatijeh ists noch eine Stunde bis Dschenin, der
Stadt, welche die Grenze zwischen Samaria und Galiläa bezeichnet. Die
Archäologen suchen hier das Ginaea des Josephus, andere Sunem, wo der
Prophet Elisa den Knaben seiner Wohlthäterin vom Tode erweckte. Der Ort
liegt sehr anmuthig in Maulbeeren- und Granatenpflanzungen, Feigen- und
Orangengärten, die von gelbblühenden Kaktushecken umgeben sind und in
denen sich auch einige Palmen erheben. Ein klarer Bach rinnt durch dieses
kleine Paradies, dessen Schatten uns so unwiderstehlich lockten, daß wir in einem
der Gärten zu rasten beschlossen. Während der Dragoman hier das Frühstück
bereitete, benutzten wir die Gelegenheit zum Baden, welche die hinter dem


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[0514] Mensch und Natur, als dieses Erglühen und dieses Erlöschen des Abendroths auf den Stirnen der Menschen und der Berge. Am Morgen sah ich in der Ferne zwischen den Höhen einen See schim¬ mern, von dem die Karte nichts wußte. Ich glaubte zuerst, es sei eine Täu¬ schung der Sinne, dann dachte ich an aussteigende Morgennebel, die häufig von weitem gesehen als Wasserflächen erscheinen. Auad, der nur seine Dra¬ gomanskünste verstand und außerdem nur noch Gedanken sür den Profit hatte, den er an uns etwa haben würde, wußte keine Auskunft zu geben. Doch meinte er, wir würden vor dem Wasser vorbeikommen. Wir ritten zu¬ erst durch ein westlich laufendes Wadi, in dem ein Bach durch einen Oliven- Wald floß und bogen dann in ein nach Norden abzweigendes, breiteres Sei¬ tenthal ein, durch dessen Grasflächen und Getreidefelder wir nach dem weiten Kessel kamen, aus welchem mir der zweifelhafte See entgegengeleuchtct hatte. Wir sahen jetzt, daß es wirklich Wasser war, was die etwa eine Stunde lange und ungefähr ebenso breite Fläche bedeckte. Ueber demselben lag auf steiler gelblicher Höhe eine kleine festungsartige Stadt, die unser Führer Sanur nannte und von der er wissen wollte, sie sei das alte Bcthulia, so daß aus der Ebne, die der See einnahm, die Geschichte von Judith und Holofernes ge¬ spielt hätte. Wir ließen Leute des Ortes nach dem Wasser fragen und er¬ fuhren, daß es durch die Regengüsse des Winters entstanden sei und in einigen Wochen verdunstet sein werde. Von hier ritten wir zuerst durch Getreidefelder, dann durch eine tiefe mit Lentiscus und Stacheleichen bewachsene Schlucht nachdem großen Dorf Keba- tijeh hinab, das zum Theil aus Steinhäusern, zum Theil aus kegelförmigen Lehmhütten besteht. Aus dem Wege trafen wir eine Eiche, an deren Zweig¬ spitzen an hundert Fetzen von Hemden und andern Kleidungsstücken gebunden waren. Auad wußte wie gewöhnlich nicht, was sie zu bedeuten hatten. Ich vermuthe, daß der Baum in der Legende eine Stelle einnimmt, und vielleicht waren die Fetzen eine Art Opfer, oder sie hingen mit einer sympathetischen Cur zusammen. Von Kebatijeh ists noch eine Stunde bis Dschenin, der Stadt, welche die Grenze zwischen Samaria und Galiläa bezeichnet. Die Archäologen suchen hier das Ginaea des Josephus, andere Sunem, wo der Prophet Elisa den Knaben seiner Wohlthäterin vom Tode erweckte. Der Ort liegt sehr anmuthig in Maulbeeren- und Granatenpflanzungen, Feigen- und Orangengärten, die von gelbblühenden Kaktushecken umgeben sind und in denen sich auch einige Palmen erheben. Ein klarer Bach rinnt durch dieses kleine Paradies, dessen Schatten uns so unwiderstehlich lockten, daß wir in einem der Gärten zu rasten beschlossen. Während der Dragoman hier das Frühstück bereitete, benutzten wir die Gelegenheit zum Baden, welche die hinter dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/514>, abgerufen am 03.07.2024.