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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Lucanus. Tullius Cicero, Macer. Plato. Sedulius, Prudentius, Juvencus,
Fortunatus und Prosper. Karl der Große besitzt nach ihm einen Senat,
Die Aehren sind "der Ceres Geschlecht reif für die Sichel der Saat". Den
Werth "der süßen Trauben des Bachus" versteht er zu schätzen wie einer und
läßt sie Papst und Kaiser trefflich munden. Bei dem Mahl lassen sich die
hohen Herrschaften nach Sitte der Alten "Naß über die Hände sprengen"'
Bei der Weinlese schwingt der Winzer "die Cimbel". Wer in den Krieg zieh^
"stürmt in den Kampf des Mars" und wer das Unglück hat. darin zu fallen,
"wird zum Orkus entsendet". "Den Tag führt die hehre Aurora herauf"
und wer sollte nicht geneigt sein, sobald der Sänger von Phöbus spricht, der
"muss neue im goldenen Haare erglänzt", an die gleichzeitigen Darstellungen
der Sonne als Apollo mit dem Nimbus in Karolingischen Miniaturen zu den¬
ken? Wie nun anderwärts die Sonne von der bildenden Kunst als ein Jung'
ling aus einem vierspännigen Wagen stehend dargestellt wird, so läßt auch
unser Dichter "Helios Rosse den Tag herausführen". .

In vergleichenden Schilderungen erreicht Nigellus nach dem Vorbild der
alten Dichter eine ihnen nahebei ebenbürtige Anschaulichkeit, wie folgendes
Gleichniß in echt antikem Stil darthut:


"Aber wie hoch aus den Wolken sich schwingend ein Habicht herabstößt,
Raubend den Vogel im Fang, in sein Geklüfte dann fliegt;
Doch rings krächzen die Freunde und rauhe Ton' in die Lüste
Rufen vergeblich und nachfolgen dem Vogel im Flug:
Aber der sitzt im Sichern und reiftet und backed die Beute,
Werdend sie überall hin, wie es ihm immer gefällt :c."

Wer das liest, hofft ich, wird nicht mehr geneigt, bei den ganz ähnliche"
Erscheinungen in der bildenden Kunst jener Zeit von einer "ganz unversta"'
denen, rein äußerlichen, fast unbewußten" Nachbildung der Antike zu spreche"'
Jene Künstler wußten so gut, wie die des sechzehnten Jahrhunderts, was sie
bildeten und bezweckten; sie haben mehr reproduciren wollen, als eine todte,
ihnen bereits unverständliche Formensprache.

So stand es mit der Antike im Karolingischen Zeitalter in dem Gebiete
der Literatur. Wer möchte es noch Ottfried, dem Verfasser der althochdeutsche"
Evangelienharmonie verargen, wenn er in der Einleitung zu seinem Werke
in einer wohlbegründeten Opposition gegen diese Geistesrichtung begriffe"
"die Welt im neunten Jahrhundert nach Christus von den Gedichten der
Lateiner beherrscht nennt"! Selbst die verschwommenen Gespenster jener
gewinnen durch die allgemein verbreitete antike Anschauungsweise in der E>"'
bildungskraft der sie schildernden eine gewisse plastische Form und Gestalt
Wenn in der Lebensbeschreibung des heiligen Gallus erzählt wird, "dem
Heiligen seien zwei Teufel in Weibergestalt erschienen, die nackt am Ufer der


Lucanus. Tullius Cicero, Macer. Plato. Sedulius, Prudentius, Juvencus,
Fortunatus und Prosper. Karl der Große besitzt nach ihm einen Senat,
Die Aehren sind „der Ceres Geschlecht reif für die Sichel der Saat". Den
Werth „der süßen Trauben des Bachus" versteht er zu schätzen wie einer und
läßt sie Papst und Kaiser trefflich munden. Bei dem Mahl lassen sich die
hohen Herrschaften nach Sitte der Alten „Naß über die Hände sprengen"'
Bei der Weinlese schwingt der Winzer „die Cimbel". Wer in den Krieg zieh^
„stürmt in den Kampf des Mars" und wer das Unglück hat. darin zu fallen,
„wird zum Orkus entsendet". „Den Tag führt die hehre Aurora herauf"
und wer sollte nicht geneigt sein, sobald der Sänger von Phöbus spricht, der
„muss neue im goldenen Haare erglänzt", an die gleichzeitigen Darstellungen
der Sonne als Apollo mit dem Nimbus in Karolingischen Miniaturen zu den¬
ken? Wie nun anderwärts die Sonne von der bildenden Kunst als ein Jung'
ling aus einem vierspännigen Wagen stehend dargestellt wird, so läßt auch
unser Dichter „Helios Rosse den Tag herausführen". .

In vergleichenden Schilderungen erreicht Nigellus nach dem Vorbild der
alten Dichter eine ihnen nahebei ebenbürtige Anschaulichkeit, wie folgendes
Gleichniß in echt antikem Stil darthut:


„Aber wie hoch aus den Wolken sich schwingend ein Habicht herabstößt,
Raubend den Vogel im Fang, in sein Geklüfte dann fliegt;
Doch rings krächzen die Freunde und rauhe Ton' in die Lüste
Rufen vergeblich und nachfolgen dem Vogel im Flug:
Aber der sitzt im Sichern und reiftet und backed die Beute,
Werdend sie überall hin, wie es ihm immer gefällt :c."

Wer das liest, hofft ich, wird nicht mehr geneigt, bei den ganz ähnliche"
Erscheinungen in der bildenden Kunst jener Zeit von einer „ganz unversta»'
denen, rein äußerlichen, fast unbewußten" Nachbildung der Antike zu spreche"'
Jene Künstler wußten so gut, wie die des sechzehnten Jahrhunderts, was sie
bildeten und bezweckten; sie haben mehr reproduciren wollen, als eine todte,
ihnen bereits unverständliche Formensprache.

So stand es mit der Antike im Karolingischen Zeitalter in dem Gebiete
der Literatur. Wer möchte es noch Ottfried, dem Verfasser der althochdeutsche"
Evangelienharmonie verargen, wenn er in der Einleitung zu seinem Werke
in einer wohlbegründeten Opposition gegen diese Geistesrichtung begriffe"
„die Welt im neunten Jahrhundert nach Christus von den Gedichten der
Lateiner beherrscht nennt"! Selbst die verschwommenen Gespenster jener
gewinnen durch die allgemein verbreitete antike Anschauungsweise in der E>"'
bildungskraft der sie schildernden eine gewisse plastische Form und Gestalt
Wenn in der Lebensbeschreibung des heiligen Gallus erzählt wird, „dem
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[0292] Lucanus. Tullius Cicero, Macer. Plato. Sedulius, Prudentius, Juvencus, Fortunatus und Prosper. Karl der Große besitzt nach ihm einen Senat, Die Aehren sind „der Ceres Geschlecht reif für die Sichel der Saat". Den Werth „der süßen Trauben des Bachus" versteht er zu schätzen wie einer und läßt sie Papst und Kaiser trefflich munden. Bei dem Mahl lassen sich die hohen Herrschaften nach Sitte der Alten „Naß über die Hände sprengen"' Bei der Weinlese schwingt der Winzer „die Cimbel". Wer in den Krieg zieh^ „stürmt in den Kampf des Mars" und wer das Unglück hat. darin zu fallen, „wird zum Orkus entsendet". „Den Tag führt die hehre Aurora herauf" und wer sollte nicht geneigt sein, sobald der Sänger von Phöbus spricht, der „muss neue im goldenen Haare erglänzt", an die gleichzeitigen Darstellungen der Sonne als Apollo mit dem Nimbus in Karolingischen Miniaturen zu den¬ ken? Wie nun anderwärts die Sonne von der bildenden Kunst als ein Jung' ling aus einem vierspännigen Wagen stehend dargestellt wird, so läßt auch unser Dichter „Helios Rosse den Tag herausführen". . In vergleichenden Schilderungen erreicht Nigellus nach dem Vorbild der alten Dichter eine ihnen nahebei ebenbürtige Anschaulichkeit, wie folgendes Gleichniß in echt antikem Stil darthut: „Aber wie hoch aus den Wolken sich schwingend ein Habicht herabstößt, Raubend den Vogel im Fang, in sein Geklüfte dann fliegt; Doch rings krächzen die Freunde und rauhe Ton' in die Lüste Rufen vergeblich und nachfolgen dem Vogel im Flug: Aber der sitzt im Sichern und reiftet und backed die Beute, Werdend sie überall hin, wie es ihm immer gefällt :c." Wer das liest, hofft ich, wird nicht mehr geneigt, bei den ganz ähnliche" Erscheinungen in der bildenden Kunst jener Zeit von einer „ganz unversta»' denen, rein äußerlichen, fast unbewußten" Nachbildung der Antike zu spreche"' Jene Künstler wußten so gut, wie die des sechzehnten Jahrhunderts, was sie bildeten und bezweckten; sie haben mehr reproduciren wollen, als eine todte, ihnen bereits unverständliche Formensprache. So stand es mit der Antike im Karolingischen Zeitalter in dem Gebiete der Literatur. Wer möchte es noch Ottfried, dem Verfasser der althochdeutsche" Evangelienharmonie verargen, wenn er in der Einleitung zu seinem Werke in einer wohlbegründeten Opposition gegen diese Geistesrichtung begriffe" „die Welt im neunten Jahrhundert nach Christus von den Gedichten der Lateiner beherrscht nennt"! Selbst die verschwommenen Gespenster jener gewinnen durch die allgemein verbreitete antike Anschauungsweise in der E>"' bildungskraft der sie schildernden eine gewisse plastische Form und Gestalt Wenn in der Lebensbeschreibung des heiligen Gallus erzählt wird, „dem Heiligen seien zwei Teufel in Weibergestalt erschienen, die nackt am Ufer der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/292>, abgerufen am 28.12.2024.