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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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werden hier allmonatlich zwei Bälle abgehalten. Bei einem Verdienst, bei
welchem leipziger oder dresdner Arbeiter betrübt zu Hause bleiben würden,
zieht das junge Volk erzgebirgischer Städtchen des Abends mit Sang und
Klang durch die Gassen, so daß ein Fremder in einer Universitätsstadt unter
fideler Studiosen zu sein glauben konnte, die sich einen "kleinen Brand an¬
getrunken" haben, während diese jungen Arbeiter sich begnügen müssen, "des
Mondes Silberschein zu trinken." Und nicht blos die Jugend versteht sich auf
die Kunst, sich mit wenig Aufwand lustig zu machen. Ein Bergfest, ein
Vogelschießen bringt auch die Alten auf die Beine, und jeder Sonntag, wo
man sich ein Glas Bier gönnen darf, erinnert den Fremden, der die heitern
Gesichter sieht, an Rafaels Kunststück, mit einem einzigen Pinselstrich Weinen
in Lächeln zu verwandeln.

Der Verfasser ruf, aus: Gesegnet sei eure heitere Lebenskunst, ihr gemüth-
lichen Erzgebirger! So ruft gewiß jeder aus, der mit angesehen, wie roh viele
englische Fabrikarbeiter sich lustig machen am Sonnabend und an dem streng
gefeierten Sonntag. Gesegnet sei eure Fröhlichkeit, so lange sie euch lehrt,
euch in Ehren zu freuen! Sie ist noch mehr werth als eure vielgepriesene
Genügsamkeit!

Die Gemüthlichkeit nämlich hat auch ihre große Schattenseite, und der Ver¬
fasser ist gegen diese nichts weniger als blind. "Ist es," fährt er fort, "wirk¬
lich eine so große Tugend, nicht über die Lebensweise, die einförmige Kartoffel¬
kost zu murren, wenn man von Jugend auf an sie gewöhnt ist und fast alle
Nachbarn darauf beschränkt sieht? Wäre es nicht ein größeres Verdienst, die
Unzuträglichkeit dieser Lebensweise recht lebhast zu fühlen und mit allen ehr¬
lichen Mitteln energisch nach Besserung derselben zu streben?

Die Gemüthlichkeit ist der gerade Gegensatz der Thatkräftigkeit. Der ener¬
gische Mann ist wol nie gemüthlich. Jedenfalls darf sich diese mehr weiblich-
receptive, als männlich-active Sinnesart nicht dahin erstrecken, wo--die Ge¬
müthlichkeit aufhört, nicht blos im Sinne des Sprichwortes. Diese Grenze
scheint sie aber auf dem Erzgcbirg in einigen Beziehungen zu überschreiten,
und zumal bei den Industriellen.

Die "gemüthliche" Genügsamkeit, oft nicht viel mehr als dumpfe, passive
Ergebung, artet leicht aus in leichtsinnige Sorglosigkeit. Man begründet eine
Familie, ohne kaum das dürftigste Hausgeräth beschafft, noch weniger einen
Nothpfennig gespart zu haben. Die leidige Hoffnung, daß die Arbeit der
Frau und der Kinder den Verdienst des Mannes ergänzen werde, und der
träge Trost, daß andere es auch nicht besser haben, bringt manches junge Paar
zusammen, das anderswo noch Jahre lang geschafft und gespart haben würde.
Im Ehestande kommt man noch weniger zum Sparen. In gewöhnlicher oder
gar knapper Zeit ist es fast unmöglich, und in guter Zeit verleitet die "gemüth-


werden hier allmonatlich zwei Bälle abgehalten. Bei einem Verdienst, bei
welchem leipziger oder dresdner Arbeiter betrübt zu Hause bleiben würden,
zieht das junge Volk erzgebirgischer Städtchen des Abends mit Sang und
Klang durch die Gassen, so daß ein Fremder in einer Universitätsstadt unter
fideler Studiosen zu sein glauben konnte, die sich einen „kleinen Brand an¬
getrunken" haben, während diese jungen Arbeiter sich begnügen müssen, „des
Mondes Silberschein zu trinken." Und nicht blos die Jugend versteht sich auf
die Kunst, sich mit wenig Aufwand lustig zu machen. Ein Bergfest, ein
Vogelschießen bringt auch die Alten auf die Beine, und jeder Sonntag, wo
man sich ein Glas Bier gönnen darf, erinnert den Fremden, der die heitern
Gesichter sieht, an Rafaels Kunststück, mit einem einzigen Pinselstrich Weinen
in Lächeln zu verwandeln.

Der Verfasser ruf, aus: Gesegnet sei eure heitere Lebenskunst, ihr gemüth-
lichen Erzgebirger! So ruft gewiß jeder aus, der mit angesehen, wie roh viele
englische Fabrikarbeiter sich lustig machen am Sonnabend und an dem streng
gefeierten Sonntag. Gesegnet sei eure Fröhlichkeit, so lange sie euch lehrt,
euch in Ehren zu freuen! Sie ist noch mehr werth als eure vielgepriesene
Genügsamkeit!

Die Gemüthlichkeit nämlich hat auch ihre große Schattenseite, und der Ver¬
fasser ist gegen diese nichts weniger als blind. „Ist es," fährt er fort, „wirk¬
lich eine so große Tugend, nicht über die Lebensweise, die einförmige Kartoffel¬
kost zu murren, wenn man von Jugend auf an sie gewöhnt ist und fast alle
Nachbarn darauf beschränkt sieht? Wäre es nicht ein größeres Verdienst, die
Unzuträglichkeit dieser Lebensweise recht lebhast zu fühlen und mit allen ehr¬
lichen Mitteln energisch nach Besserung derselben zu streben?

Die Gemüthlichkeit ist der gerade Gegensatz der Thatkräftigkeit. Der ener¬
gische Mann ist wol nie gemüthlich. Jedenfalls darf sich diese mehr weiblich-
receptive, als männlich-active Sinnesart nicht dahin erstrecken, wo—die Ge¬
müthlichkeit aufhört, nicht blos im Sinne des Sprichwortes. Diese Grenze
scheint sie aber auf dem Erzgcbirg in einigen Beziehungen zu überschreiten,
und zumal bei den Industriellen.

Die „gemüthliche" Genügsamkeit, oft nicht viel mehr als dumpfe, passive
Ergebung, artet leicht aus in leichtsinnige Sorglosigkeit. Man begründet eine
Familie, ohne kaum das dürftigste Hausgeräth beschafft, noch weniger einen
Nothpfennig gespart zu haben. Die leidige Hoffnung, daß die Arbeit der
Frau und der Kinder den Verdienst des Mannes ergänzen werde, und der
träge Trost, daß andere es auch nicht besser haben, bringt manches junge Paar
zusammen, das anderswo noch Jahre lang geschafft und gespart haben würde.
Im Ehestande kommt man noch weniger zum Sparen. In gewöhnlicher oder
gar knapper Zeit ist es fast unmöglich, und in guter Zeit verleitet die „gemüth-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/118>, abgerufen am 22.07.2024.