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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Welche Labung nach solch ausgestandener Hitze! Die Fensterladen waren halb
zugekehrt, vor jedem Couvert stand eine Flasche kühlen Weins, in einem
großen Glasbecken lagen Stücke Eis -- vielleicht vom Monte Rosa. Der
Pfirsich, die japanische Mispel, die Orange dufteten durch den Raum. Die
Glocke hatte zu läuten begonnen und ein Bruder erschien nach dem andern.
Es waren fromme Baarfüßler von charakteristischer Erscheinung: die einen
corpulcnt, mit gerötheten Gesichtern und feisten Stiernackcn, die andern hager,
mit fanatischen Augen und geschwungenen Habichtsnasen. Allen war der Kopf
bis auf einen schmalen Haarkranz kahl geschoren.

Der Wein und der lebhafte Ton des excentrischen Franzosen verscheuchten
bald das Gefühl von Gene, das uns anfangs in einer so fremdartigen Ge¬
sellschaft zu überkommen drohte. Wir merkten rasch, daß wir uns unter Men¬
schen von den barocksten Ansichten befanden und waren entschlossen, uns vor¬
erst möglichst still zu verhalten, um keinen Anstoß zu geben. In den Ton.
der gar bald zu Tage kam. mochten wir nicht einstimmen, aber auch wider¬
sprechen wollten wir nicht. Die Gesellschaft um uns herum war offenbar mit
allen modernen Institutionen ihres Vaterlandes in offenem Krieg. In uns
sahen die guten Väter fromme, unverdorbene Hyperboräer, ihre Alliirten.
Das war komisch, wir waren neugierig, zu sehen, wohin es führen werde.

"Die Welt hat sich umgekehrt, sagte endlich der Prior. Einst waren
die Deutschen vom schismatischen Geiste angesteckt, als Italien orthodox war.
Jetzt befindet sich unser armes Vaterland im Aufstande gegen seinen geistlichen
Vater und die Deutschen sind seine Stütze. Gibt es. wendete sich der Prior
an mich, noch viele Anhänger des Luthero in Deutschland?"

"Noch etwelche -- in Preußen zum Beispiel."

"Rechnen Sie denn, fragte der Prior erstaunt, die Prussiani zu den
Deutschen? Ich halte sie für eine eigne Nation, die einerseits mit den Rus¬
sen, anderseits mit den Holländern verwandt ist."

"Diese ethnographischen Verhältnisse, erwiederte der Freund statt meiner,
sind von den Gelehrten noch nicht völlig festgestellt."

"Es ist natürlich, siel ein alter Frater ein, daß die Deutschen ihre
Zahl vergrößern möchten und auch Völker zu sich rechnen, die mit ihnen nur
weitläufig verwandt sind. Streng genommen rechnet man zu den Deutschen
nur die Tyrolesi, die Bavaresi und die Austriaci."

"Nun -- und die Boemi vergessen Sie? ergänzte ein Dritter. Doch
in Boemia hat es auch seiner Zeit Ketzer gegeben. Gibt es noch Hussiten
dort?"

"Keinen einzigen. Ganz ausgerottet!"

"Gott sei Dank. Gott sei Dank! In Turin hat man den Schismatikern
eine Kirche bauen helfen."


Welche Labung nach solch ausgestandener Hitze! Die Fensterladen waren halb
zugekehrt, vor jedem Couvert stand eine Flasche kühlen Weins, in einem
großen Glasbecken lagen Stücke Eis — vielleicht vom Monte Rosa. Der
Pfirsich, die japanische Mispel, die Orange dufteten durch den Raum. Die
Glocke hatte zu läuten begonnen und ein Bruder erschien nach dem andern.
Es waren fromme Baarfüßler von charakteristischer Erscheinung: die einen
corpulcnt, mit gerötheten Gesichtern und feisten Stiernackcn, die andern hager,
mit fanatischen Augen und geschwungenen Habichtsnasen. Allen war der Kopf
bis auf einen schmalen Haarkranz kahl geschoren.

Der Wein und der lebhafte Ton des excentrischen Franzosen verscheuchten
bald das Gefühl von Gene, das uns anfangs in einer so fremdartigen Ge¬
sellschaft zu überkommen drohte. Wir merkten rasch, daß wir uns unter Men¬
schen von den barocksten Ansichten befanden und waren entschlossen, uns vor¬
erst möglichst still zu verhalten, um keinen Anstoß zu geben. In den Ton.
der gar bald zu Tage kam. mochten wir nicht einstimmen, aber auch wider¬
sprechen wollten wir nicht. Die Gesellschaft um uns herum war offenbar mit
allen modernen Institutionen ihres Vaterlandes in offenem Krieg. In uns
sahen die guten Väter fromme, unverdorbene Hyperboräer, ihre Alliirten.
Das war komisch, wir waren neugierig, zu sehen, wohin es führen werde.

„Die Welt hat sich umgekehrt, sagte endlich der Prior. Einst waren
die Deutschen vom schismatischen Geiste angesteckt, als Italien orthodox war.
Jetzt befindet sich unser armes Vaterland im Aufstande gegen seinen geistlichen
Vater und die Deutschen sind seine Stütze. Gibt es. wendete sich der Prior
an mich, noch viele Anhänger des Luthero in Deutschland?"

„Noch etwelche — in Preußen zum Beispiel."

„Rechnen Sie denn, fragte der Prior erstaunt, die Prussiani zu den
Deutschen? Ich halte sie für eine eigne Nation, die einerseits mit den Rus¬
sen, anderseits mit den Holländern verwandt ist."

„Diese ethnographischen Verhältnisse, erwiederte der Freund statt meiner,
sind von den Gelehrten noch nicht völlig festgestellt."

„Es ist natürlich, siel ein alter Frater ein, daß die Deutschen ihre
Zahl vergrößern möchten und auch Völker zu sich rechnen, die mit ihnen nur
weitläufig verwandt sind. Streng genommen rechnet man zu den Deutschen
nur die Tyrolesi, die Bavaresi und die Austriaci."

„Nun — und die Boemi vergessen Sie? ergänzte ein Dritter. Doch
in Boemia hat es auch seiner Zeit Ketzer gegeben. Gibt es noch Hussiten
dort?"

„Keinen einzigen. Ganz ausgerottet!"

„Gott sei Dank. Gott sei Dank! In Turin hat man den Schismatikern
eine Kirche bauen helfen."


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[0519] Welche Labung nach solch ausgestandener Hitze! Die Fensterladen waren halb zugekehrt, vor jedem Couvert stand eine Flasche kühlen Weins, in einem großen Glasbecken lagen Stücke Eis — vielleicht vom Monte Rosa. Der Pfirsich, die japanische Mispel, die Orange dufteten durch den Raum. Die Glocke hatte zu läuten begonnen und ein Bruder erschien nach dem andern. Es waren fromme Baarfüßler von charakteristischer Erscheinung: die einen corpulcnt, mit gerötheten Gesichtern und feisten Stiernackcn, die andern hager, mit fanatischen Augen und geschwungenen Habichtsnasen. Allen war der Kopf bis auf einen schmalen Haarkranz kahl geschoren. Der Wein und der lebhafte Ton des excentrischen Franzosen verscheuchten bald das Gefühl von Gene, das uns anfangs in einer so fremdartigen Ge¬ sellschaft zu überkommen drohte. Wir merkten rasch, daß wir uns unter Men¬ schen von den barocksten Ansichten befanden und waren entschlossen, uns vor¬ erst möglichst still zu verhalten, um keinen Anstoß zu geben. In den Ton. der gar bald zu Tage kam. mochten wir nicht einstimmen, aber auch wider¬ sprechen wollten wir nicht. Die Gesellschaft um uns herum war offenbar mit allen modernen Institutionen ihres Vaterlandes in offenem Krieg. In uns sahen die guten Väter fromme, unverdorbene Hyperboräer, ihre Alliirten. Das war komisch, wir waren neugierig, zu sehen, wohin es führen werde. „Die Welt hat sich umgekehrt, sagte endlich der Prior. Einst waren die Deutschen vom schismatischen Geiste angesteckt, als Italien orthodox war. Jetzt befindet sich unser armes Vaterland im Aufstande gegen seinen geistlichen Vater und die Deutschen sind seine Stütze. Gibt es. wendete sich der Prior an mich, noch viele Anhänger des Luthero in Deutschland?" „Noch etwelche — in Preußen zum Beispiel." „Rechnen Sie denn, fragte der Prior erstaunt, die Prussiani zu den Deutschen? Ich halte sie für eine eigne Nation, die einerseits mit den Rus¬ sen, anderseits mit den Holländern verwandt ist." „Diese ethnographischen Verhältnisse, erwiederte der Freund statt meiner, sind von den Gelehrten noch nicht völlig festgestellt." „Es ist natürlich, siel ein alter Frater ein, daß die Deutschen ihre Zahl vergrößern möchten und auch Völker zu sich rechnen, die mit ihnen nur weitläufig verwandt sind. Streng genommen rechnet man zu den Deutschen nur die Tyrolesi, die Bavaresi und die Austriaci." „Nun — und die Boemi vergessen Sie? ergänzte ein Dritter. Doch in Boemia hat es auch seiner Zeit Ketzer gegeben. Gibt es noch Hussiten dort?" „Keinen einzigen. Ganz ausgerottet!" „Gott sei Dank. Gott sei Dank! In Turin hat man den Schismatikern eine Kirche bauen helfen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/519>, abgerufen am 22.12.2024.