Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sen bis auf den kleinsten Flecken ausreinigen. Sie liest nicht, wie Mädchen,
blos um ein sentimentalisches Manna auf.der Zunge zerfließen zu lassen, son¬
dern um auch zu lernen, z. B. Geschichte und Naturgeschichte; sie hat ein fast
vollständiges Herbarium, und eine Suite von sinnreichen Blumenzusammen¬
legungen ... Sie macht Verse ... Sie hält jeden Vorsatz, z. B. alle
Tage ins Freie in den Garten zu gehn: "jetzt, da ich Gesundheit habe, will
ich auch gar Abhärtung." Ach die Gute! hätte sie nur jene! -- Mit größe¬
rer Macht, als ich noch je gesehn, kann sie ihre Schmerzen und Empfindungen
dicht verhüllen." -- (10 Oct.) "Den ersten Tag als ich ankam, ging ich un¬
angemeldet zu ihr. Das Zimmer war leer; sie wurde aus dem Garten von
der Magd geholt. Sie kam fast sprachlos und schrieb es dem -- Laufen
zu -- welches glaublich genug ist. Wie ihr war, siehst du in einem beilie¬
genden Brief; gleichwol nahm sie einem den schönen Taumel des Wieder-
sehns." -- In einer Gesellschaft ziehen sie sich in ein Nebenzimmer zurück: "Hier
gingen wir auf und ab und häufig vor der hellen Thür vorbei, aber immer
seltener; blieben länger am Ofen -- sie sagte mir ihr Herz und sank mit
ihrem Kopf an meines, und ich gab ihrem Auge den ersten Kuß." -- Schon
drei Tage darauf folgt eine Scene. "Karoline gab mir ihre Gedichte und
ein Briefchen. Als ich an die mit Bleistift geschwärzte Stelle kam. war mein
Abendhimmel in Schneewolken ersoffen. Hart, hart wirft immer das Schick¬
sal mein bewegtes Herz gegen die eckigste Wand, die es finden kann. Or¬
dentlich empört war ich an jenem Abend über dies Wurfspiel. Ich zeige ihr
die Stelle in einer schnellen Minute, und sag' ein hartes Wort und bleibe
nun kalt. Ich verstand die Stelle so: "Widersetzt sich die Familie der Ver¬
bindung, so u. s. w." -- Nun beging die Gute ihren ersten Fehler unter lau¬
ter Schmerzen; sie war nämlich den ganzen Abend schneidend, anspielend, hart
und außer sich, wie ichs nie sah -- ich gebot über mich fest und erwiederte
keine Bitterkeit, die zu einer reizen sollte. Wenn man meine Liebe stört und
martert, windet mein Inneres wie eine Schlange sich auf und steht fest. ---
Unter dem Essen ermattete ihr bekämpfendes und unbekämpftes Herz und das
gute Auge weinte. "Zahnschmerzen!" sagte sie mit einem Ton zur fragenden
Mutter, der nicht einmal überreden will. Ich schwieg. Am Morgen bekam
ich das Briefchen No. 6. Ich meldete und erklärte mein Ich und bekam
No. und als ich sie wiedersah, sank sie mir nach meinen wenigen sanften
Worten ans Herz, ohne meine schriftlichen Erklärungen verstanden zu haben.
Denn sie hatte mit jener Bleistiftstelle weiter nichts gemeint als: "wenn
wir selber u. s. w." -- O wie konnte sie aus einer solchen Stelle meine
Starrsucht erklären? Aber sie konnt' es und sogar das erklärende Billet
dazu -- Widersprüche sind die weiblichen Reime in einem weiblichen Kopf.
Ich sagt' ihrs. Aber dann blieben wir ungeschieden beieinander. Ich


sen bis auf den kleinsten Flecken ausreinigen. Sie liest nicht, wie Mädchen,
blos um ein sentimentalisches Manna auf.der Zunge zerfließen zu lassen, son¬
dern um auch zu lernen, z. B. Geschichte und Naturgeschichte; sie hat ein fast
vollständiges Herbarium, und eine Suite von sinnreichen Blumenzusammen¬
legungen ... Sie macht Verse ... Sie hält jeden Vorsatz, z. B. alle
Tage ins Freie in den Garten zu gehn: „jetzt, da ich Gesundheit habe, will
ich auch gar Abhärtung." Ach die Gute! hätte sie nur jene! — Mit größe¬
rer Macht, als ich noch je gesehn, kann sie ihre Schmerzen und Empfindungen
dicht verhüllen." — (10 Oct.) „Den ersten Tag als ich ankam, ging ich un¬
angemeldet zu ihr. Das Zimmer war leer; sie wurde aus dem Garten von
der Magd geholt. Sie kam fast sprachlos und schrieb es dem — Laufen
zu — welches glaublich genug ist. Wie ihr war, siehst du in einem beilie¬
genden Brief; gleichwol nahm sie einem den schönen Taumel des Wieder-
sehns." — In einer Gesellschaft ziehen sie sich in ein Nebenzimmer zurück: „Hier
gingen wir auf und ab und häufig vor der hellen Thür vorbei, aber immer
seltener; blieben länger am Ofen — sie sagte mir ihr Herz und sank mit
ihrem Kopf an meines, und ich gab ihrem Auge den ersten Kuß." — Schon
drei Tage darauf folgt eine Scene. „Karoline gab mir ihre Gedichte und
ein Briefchen. Als ich an die mit Bleistift geschwärzte Stelle kam. war mein
Abendhimmel in Schneewolken ersoffen. Hart, hart wirft immer das Schick¬
sal mein bewegtes Herz gegen die eckigste Wand, die es finden kann. Or¬
dentlich empört war ich an jenem Abend über dies Wurfspiel. Ich zeige ihr
die Stelle in einer schnellen Minute, und sag' ein hartes Wort und bleibe
nun kalt. Ich verstand die Stelle so: „Widersetzt sich die Familie der Ver¬
bindung, so u. s. w." — Nun beging die Gute ihren ersten Fehler unter lau¬
ter Schmerzen; sie war nämlich den ganzen Abend schneidend, anspielend, hart
und außer sich, wie ichs nie sah — ich gebot über mich fest und erwiederte
keine Bitterkeit, die zu einer reizen sollte. Wenn man meine Liebe stört und
martert, windet mein Inneres wie eine Schlange sich auf und steht fest. —-
Unter dem Essen ermattete ihr bekämpfendes und unbekämpftes Herz und das
gute Auge weinte. „Zahnschmerzen!" sagte sie mit einem Ton zur fragenden
Mutter, der nicht einmal überreden will. Ich schwieg. Am Morgen bekam
ich das Briefchen No. 6. Ich meldete und erklärte mein Ich und bekam
No. und als ich sie wiedersah, sank sie mir nach meinen wenigen sanften
Worten ans Herz, ohne meine schriftlichen Erklärungen verstanden zu haben.
Denn sie hatte mit jener Bleistiftstelle weiter nichts gemeint als: „wenn
wir selber u. s. w." — O wie konnte sie aus einer solchen Stelle meine
Starrsucht erklären? Aber sie konnt' es und sogar das erklärende Billet
dazu — Widersprüche sind die weiblichen Reime in einem weiblichen Kopf.
Ich sagt' ihrs. Aber dann blieben wir ungeschieden beieinander. Ich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107429"/>
          <p xml:id="ID_1133" prev="#ID_1132" next="#ID_1134"> sen bis auf den kleinsten Flecken ausreinigen. Sie liest nicht, wie Mädchen,<lb/>
blos um ein sentimentalisches Manna auf.der Zunge zerfließen zu lassen, son¬<lb/>
dern um auch zu lernen, z. B. Geschichte und Naturgeschichte; sie hat ein fast<lb/>
vollständiges Herbarium, und eine Suite von sinnreichen Blumenzusammen¬<lb/>
legungen ... Sie macht Verse ... Sie hält jeden Vorsatz, z. B. alle<lb/>
Tage ins Freie in den Garten zu gehn: &#x201E;jetzt, da ich Gesundheit habe, will<lb/>
ich auch gar Abhärtung." Ach die Gute! hätte sie nur jene! &#x2014; Mit größe¬<lb/>
rer Macht, als ich noch je gesehn, kann sie ihre Schmerzen und Empfindungen<lb/>
dicht verhüllen." &#x2014; (10 Oct.) &#x201E;Den ersten Tag als ich ankam, ging ich un¬<lb/>
angemeldet zu ihr. Das Zimmer war leer; sie wurde aus dem Garten von<lb/>
der Magd geholt. Sie kam fast sprachlos und schrieb es dem &#x2014; Laufen<lb/>
zu &#x2014; welches glaublich genug ist. Wie ihr war, siehst du in einem beilie¬<lb/>
genden Brief; gleichwol nahm sie einem den schönen Taumel des Wieder-<lb/>
sehns." &#x2014; In einer Gesellschaft ziehen sie sich in ein Nebenzimmer zurück: &#x201E;Hier<lb/>
gingen wir auf und ab und häufig vor der hellen Thür vorbei, aber immer<lb/>
seltener; blieben länger am Ofen &#x2014; sie sagte mir ihr Herz und sank mit<lb/>
ihrem Kopf an meines, und ich gab ihrem Auge den ersten Kuß." &#x2014; Schon<lb/>
drei Tage darauf folgt eine Scene. &#x201E;Karoline gab mir ihre Gedichte und<lb/>
ein Briefchen. Als ich an die mit Bleistift geschwärzte Stelle kam. war mein<lb/>
Abendhimmel in Schneewolken ersoffen. Hart, hart wirft immer das Schick¬<lb/>
sal mein bewegtes Herz gegen die eckigste Wand, die es finden kann. Or¬<lb/>
dentlich empört war ich an jenem Abend über dies Wurfspiel. Ich zeige ihr<lb/>
die Stelle in einer schnellen Minute, und sag' ein hartes Wort und bleibe<lb/>
nun kalt. Ich verstand die Stelle so: &#x201E;Widersetzt sich die Familie der Ver¬<lb/>
bindung, so u. s. w." &#x2014; Nun beging die Gute ihren ersten Fehler unter lau¬<lb/>
ter Schmerzen; sie war nämlich den ganzen Abend schneidend, anspielend, hart<lb/>
und außer sich, wie ichs nie sah &#x2014; ich gebot über mich fest und erwiederte<lb/>
keine Bitterkeit, die zu einer reizen sollte. Wenn man meine Liebe stört und<lb/>
martert, windet mein Inneres wie eine Schlange sich auf und steht fest. &#x2014;-<lb/>
Unter dem Essen ermattete ihr bekämpfendes und unbekämpftes Herz und das<lb/>
gute Auge weinte. &#x201E;Zahnschmerzen!" sagte sie mit einem Ton zur fragenden<lb/>
Mutter, der nicht einmal überreden will. Ich schwieg. Am Morgen bekam<lb/>
ich das Briefchen No. 6. Ich meldete und erklärte mein Ich und bekam<lb/>
No. und als ich sie wiedersah, sank sie mir nach meinen wenigen sanften<lb/>
Worten ans Herz, ohne meine schriftlichen Erklärungen verstanden zu haben.<lb/>
Denn sie hatte mit jener Bleistiftstelle weiter nichts gemeint als: &#x201E;wenn<lb/>
wir selber u. s. w." &#x2014; O wie konnte sie aus einer solchen Stelle meine<lb/>
Starrsucht erklären? Aber sie konnt' es und sogar das erklärende Billet<lb/>
dazu &#x2014; Widersprüche sind die weiblichen Reime in einem weiblichen Kopf.<lb/>
Ich sagt' ihrs.  Aber dann blieben wir ungeschieden beieinander. Ich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] sen bis auf den kleinsten Flecken ausreinigen. Sie liest nicht, wie Mädchen, blos um ein sentimentalisches Manna auf.der Zunge zerfließen zu lassen, son¬ dern um auch zu lernen, z. B. Geschichte und Naturgeschichte; sie hat ein fast vollständiges Herbarium, und eine Suite von sinnreichen Blumenzusammen¬ legungen ... Sie macht Verse ... Sie hält jeden Vorsatz, z. B. alle Tage ins Freie in den Garten zu gehn: „jetzt, da ich Gesundheit habe, will ich auch gar Abhärtung." Ach die Gute! hätte sie nur jene! — Mit größe¬ rer Macht, als ich noch je gesehn, kann sie ihre Schmerzen und Empfindungen dicht verhüllen." — (10 Oct.) „Den ersten Tag als ich ankam, ging ich un¬ angemeldet zu ihr. Das Zimmer war leer; sie wurde aus dem Garten von der Magd geholt. Sie kam fast sprachlos und schrieb es dem — Laufen zu — welches glaublich genug ist. Wie ihr war, siehst du in einem beilie¬ genden Brief; gleichwol nahm sie einem den schönen Taumel des Wieder- sehns." — In einer Gesellschaft ziehen sie sich in ein Nebenzimmer zurück: „Hier gingen wir auf und ab und häufig vor der hellen Thür vorbei, aber immer seltener; blieben länger am Ofen — sie sagte mir ihr Herz und sank mit ihrem Kopf an meines, und ich gab ihrem Auge den ersten Kuß." — Schon drei Tage darauf folgt eine Scene. „Karoline gab mir ihre Gedichte und ein Briefchen. Als ich an die mit Bleistift geschwärzte Stelle kam. war mein Abendhimmel in Schneewolken ersoffen. Hart, hart wirft immer das Schick¬ sal mein bewegtes Herz gegen die eckigste Wand, die es finden kann. Or¬ dentlich empört war ich an jenem Abend über dies Wurfspiel. Ich zeige ihr die Stelle in einer schnellen Minute, und sag' ein hartes Wort und bleibe nun kalt. Ich verstand die Stelle so: „Widersetzt sich die Familie der Ver¬ bindung, so u. s. w." — Nun beging die Gute ihren ersten Fehler unter lau¬ ter Schmerzen; sie war nämlich den ganzen Abend schneidend, anspielend, hart und außer sich, wie ichs nie sah — ich gebot über mich fest und erwiederte keine Bitterkeit, die zu einer reizen sollte. Wenn man meine Liebe stört und martert, windet mein Inneres wie eine Schlange sich auf und steht fest. —- Unter dem Essen ermattete ihr bekämpfendes und unbekämpftes Herz und das gute Auge weinte. „Zahnschmerzen!" sagte sie mit einem Ton zur fragenden Mutter, der nicht einmal überreden will. Ich schwieg. Am Morgen bekam ich das Briefchen No. 6. Ich meldete und erklärte mein Ich und bekam No. und als ich sie wiedersah, sank sie mir nach meinen wenigen sanften Worten ans Herz, ohne meine schriftlichen Erklärungen verstanden zu haben. Denn sie hatte mit jener Bleistiftstelle weiter nichts gemeint als: „wenn wir selber u. s. w." — O wie konnte sie aus einer solchen Stelle meine Starrsucht erklären? Aber sie konnt' es und sogar das erklärende Billet dazu — Widersprüche sind die weiblichen Reime in einem weiblichen Kopf. Ich sagt' ihrs. Aber dann blieben wir ungeschieden beieinander. Ich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/382>, abgerufen am 22.12.2024.