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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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stechen; der Grund ist schlecht verhüllte Sinnlichkeit und jene aller Kraft und
aller Tugend entgegengesetzte, in der Menschheit so allgemeine Anlage des
Egoismus und der schlaffen Nachsicht gegen sich selbst, die den schwachen
Damm der Convenienz und der positiven Moral einreißt, ohne ihn durch
eigne Stärke ersetzen zu können. Dieser Kreis, der wahren Kunst so fremd
als der wahren Sittlichkeit, ist es. in welchem unsre Aftermusen Geschmack
und Herz zugleich verderben oder die schon vorhandene Verderbniß durch
einen lügenhaften Anstrich von Gefühl und Originalität bestärken. . . Die
Eulalia schmeichelt mit ihrer platten Neue der gemeinsten Schwäche und Sinn¬
lichkeit . . . Daß sich unsre Sittenverderber hinter weinerlich possenhaften Schau¬
spielen und andern Zwitterarten der Kunst verbergen, macht ihren Einfluß ge¬
fährlicher als den öffentlichen Muthwillen verrufener französischer Schriftsteller;
und wir fürchten, daß in Deutschland, wo die Sünde mit moralischem Ge¬
wäsch und die Libertinage mit Empfindelei verwässert wird, wahre Einfachheit
und Reinheit der Sitten weniger beisammen gehalten wird, als in jenem Lande,
wo die Sittenlosigkeit gleichen Schritt mit der Verfeinerung gehalten hat und wo
grade deswegen die entschiedensten Contraste nebeneinander bestehn. ohne sich je
zu verwischen." -- Dabei ist noch zu bemerken. daß Huber bereits in einem
Brief vom 10. April 1789, also lange vor Schiller, der es 1796 unternahm, die
Grenzen der dichterischen Phantasie in Bezug auf das Unsittliche in derselben
Weise bestimmte. "Die Phantasie des Dichters, wenn sie sich in das Heilig-
thum wagt, wird mein unverdorbenes Gefühl nicht beleidigen. Wohlgemerkt
aber, nur der Phantasie, der Begeisterung erlaube ich es. Der Mensch, der
das Heiligthum schändet, weil er es für Heiligthum hält, oder weil er weiß,
daß andre es dafür halten, beleidigt mich wie ein Gassenbube. Voltaires
Ton in einigen seiner spätesten Schriften ist mir widrig, denn hier ist nicht
Kraft und nicht Feuer, sondern Wuth und Ohnmacht . . . Ein jeder Gedanke,
der Gehalt hat, oder was eins ist, der aus einer begeisterten Phantasie ent¬
springt, ist meinem unverdorbenen Gefühl nicht entgegen ... die Begeisterung
hat also eigentlich gar keine Schranken, und nur, wenn sie aufhört, Begeiste¬
rung zu sein, hören ihre Rechte auf."

Mit dieser kritischen Thätigkeit verband sich noch eine andre. Forster sah
bald ein, daß Huber ein größrer Reichthum an positiven Kenntnissen nöthig
wäre. Da es ihm am nächsten lag, beredete er ihn, sich in Übersetzungen
von Reisebeschreibungen zu versuchen. Theresens beißender Spott über seine
Unthätigkeit bestimmte Huber endlich, sich an Dupatys Reise in Italien zu
machen; darauf folgte Lediards Tagebuch in Afrika und Duclos' Jahrhundert
Ludwigs des Fünfzehnten. Sein ^ Stil gewann durch Forsters Mitwirkung
sehr bedeutend, noch mehr seine Kenntniß. So schwer es war. ihn zu einem
Unternehmen irgend einer Art zu bringen, so eifrig trieb er das Geschäft, so-


Grcnzboten II. 13S9. 28

stechen; der Grund ist schlecht verhüllte Sinnlichkeit und jene aller Kraft und
aller Tugend entgegengesetzte, in der Menschheit so allgemeine Anlage des
Egoismus und der schlaffen Nachsicht gegen sich selbst, die den schwachen
Damm der Convenienz und der positiven Moral einreißt, ohne ihn durch
eigne Stärke ersetzen zu können. Dieser Kreis, der wahren Kunst so fremd
als der wahren Sittlichkeit, ist es. in welchem unsre Aftermusen Geschmack
und Herz zugleich verderben oder die schon vorhandene Verderbniß durch
einen lügenhaften Anstrich von Gefühl und Originalität bestärken. . . Die
Eulalia schmeichelt mit ihrer platten Neue der gemeinsten Schwäche und Sinn¬
lichkeit . . . Daß sich unsre Sittenverderber hinter weinerlich possenhaften Schau¬
spielen und andern Zwitterarten der Kunst verbergen, macht ihren Einfluß ge¬
fährlicher als den öffentlichen Muthwillen verrufener französischer Schriftsteller;
und wir fürchten, daß in Deutschland, wo die Sünde mit moralischem Ge¬
wäsch und die Libertinage mit Empfindelei verwässert wird, wahre Einfachheit
und Reinheit der Sitten weniger beisammen gehalten wird, als in jenem Lande,
wo die Sittenlosigkeit gleichen Schritt mit der Verfeinerung gehalten hat und wo
grade deswegen die entschiedensten Contraste nebeneinander bestehn. ohne sich je
zu verwischen." — Dabei ist noch zu bemerken. daß Huber bereits in einem
Brief vom 10. April 1789, also lange vor Schiller, der es 1796 unternahm, die
Grenzen der dichterischen Phantasie in Bezug auf das Unsittliche in derselben
Weise bestimmte. „Die Phantasie des Dichters, wenn sie sich in das Heilig-
thum wagt, wird mein unverdorbenes Gefühl nicht beleidigen. Wohlgemerkt
aber, nur der Phantasie, der Begeisterung erlaube ich es. Der Mensch, der
das Heiligthum schändet, weil er es für Heiligthum hält, oder weil er weiß,
daß andre es dafür halten, beleidigt mich wie ein Gassenbube. Voltaires
Ton in einigen seiner spätesten Schriften ist mir widrig, denn hier ist nicht
Kraft und nicht Feuer, sondern Wuth und Ohnmacht . . . Ein jeder Gedanke,
der Gehalt hat, oder was eins ist, der aus einer begeisterten Phantasie ent¬
springt, ist meinem unverdorbenen Gefühl nicht entgegen ... die Begeisterung
hat also eigentlich gar keine Schranken, und nur, wenn sie aufhört, Begeiste¬
rung zu sein, hören ihre Rechte auf."

Mit dieser kritischen Thätigkeit verband sich noch eine andre. Forster sah
bald ein, daß Huber ein größrer Reichthum an positiven Kenntnissen nöthig
wäre. Da es ihm am nächsten lag, beredete er ihn, sich in Übersetzungen
von Reisebeschreibungen zu versuchen. Theresens beißender Spott über seine
Unthätigkeit bestimmte Huber endlich, sich an Dupatys Reise in Italien zu
machen; darauf folgte Lediards Tagebuch in Afrika und Duclos' Jahrhundert
Ludwigs des Fünfzehnten. Sein ^ Stil gewann durch Forsters Mitwirkung
sehr bedeutend, noch mehr seine Kenntniß. So schwer es war. ihn zu einem
Unternehmen irgend einer Art zu bringen, so eifrig trieb er das Geschäft, so-


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[0227] stechen; der Grund ist schlecht verhüllte Sinnlichkeit und jene aller Kraft und aller Tugend entgegengesetzte, in der Menschheit so allgemeine Anlage des Egoismus und der schlaffen Nachsicht gegen sich selbst, die den schwachen Damm der Convenienz und der positiven Moral einreißt, ohne ihn durch eigne Stärke ersetzen zu können. Dieser Kreis, der wahren Kunst so fremd als der wahren Sittlichkeit, ist es. in welchem unsre Aftermusen Geschmack und Herz zugleich verderben oder die schon vorhandene Verderbniß durch einen lügenhaften Anstrich von Gefühl und Originalität bestärken. . . Die Eulalia schmeichelt mit ihrer platten Neue der gemeinsten Schwäche und Sinn¬ lichkeit . . . Daß sich unsre Sittenverderber hinter weinerlich possenhaften Schau¬ spielen und andern Zwitterarten der Kunst verbergen, macht ihren Einfluß ge¬ fährlicher als den öffentlichen Muthwillen verrufener französischer Schriftsteller; und wir fürchten, daß in Deutschland, wo die Sünde mit moralischem Ge¬ wäsch und die Libertinage mit Empfindelei verwässert wird, wahre Einfachheit und Reinheit der Sitten weniger beisammen gehalten wird, als in jenem Lande, wo die Sittenlosigkeit gleichen Schritt mit der Verfeinerung gehalten hat und wo grade deswegen die entschiedensten Contraste nebeneinander bestehn. ohne sich je zu verwischen." — Dabei ist noch zu bemerken. daß Huber bereits in einem Brief vom 10. April 1789, also lange vor Schiller, der es 1796 unternahm, die Grenzen der dichterischen Phantasie in Bezug auf das Unsittliche in derselben Weise bestimmte. „Die Phantasie des Dichters, wenn sie sich in das Heilig- thum wagt, wird mein unverdorbenes Gefühl nicht beleidigen. Wohlgemerkt aber, nur der Phantasie, der Begeisterung erlaube ich es. Der Mensch, der das Heiligthum schändet, weil er es für Heiligthum hält, oder weil er weiß, daß andre es dafür halten, beleidigt mich wie ein Gassenbube. Voltaires Ton in einigen seiner spätesten Schriften ist mir widrig, denn hier ist nicht Kraft und nicht Feuer, sondern Wuth und Ohnmacht . . . Ein jeder Gedanke, der Gehalt hat, oder was eins ist, der aus einer begeisterten Phantasie ent¬ springt, ist meinem unverdorbenen Gefühl nicht entgegen ... die Begeisterung hat also eigentlich gar keine Schranken, und nur, wenn sie aufhört, Begeiste¬ rung zu sein, hören ihre Rechte auf." Mit dieser kritischen Thätigkeit verband sich noch eine andre. Forster sah bald ein, daß Huber ein größrer Reichthum an positiven Kenntnissen nöthig wäre. Da es ihm am nächsten lag, beredete er ihn, sich in Übersetzungen von Reisebeschreibungen zu versuchen. Theresens beißender Spott über seine Unthätigkeit bestimmte Huber endlich, sich an Dupatys Reise in Italien zu machen; darauf folgte Lediards Tagebuch in Afrika und Duclos' Jahrhundert Ludwigs des Fünfzehnten. Sein ^ Stil gewann durch Forsters Mitwirkung sehr bedeutend, noch mehr seine Kenntniß. So schwer es war. ihn zu einem Unternehmen irgend einer Art zu bringen, so eifrig trieb er das Geschäft, so- Grcnzboten II. 13S9. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/227>, abgerufen am 22.12.2024.