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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Mit großer Freude wird man dagegen die Denkwürdigkeiten über Nahe!
lesen -- eigentlich ist das ganze Buch, wie alle Bücher Varnhagens, von
süßer Pietät für diese bedeutende Frau durchflochten. Der eine Abschnitt "der
Salon der Frau von Varnhagen, Berlin im März 1830" schildert die be¬
deutendsten Männer und Frauen dieser Epoche, die bei Rahel verkehrten,
und sührt an einem Abend zusammen, was sich in der Wirklichkeit wol durch
einen längern Zeitraum zersplittert haben mag. "Herrn v. Varnhagen," sagt
der Erzähler, "hatte ich schon öfters gesehn und auch flüchtig gesprochen, allein
ich bekenne, daß er wenig Anziehendes für mich besaß, er hatte etwas schar¬
fes und Ironisches, das mir ganz mißfiel u. s. w." Auch im weitern Verlauf
des Abends versäumt der Erzähler keine Gelegenheit, zu bemerken, daß ihm
Herr v. Varnhagen ganz und gar nicht gefällt; er persistirt ihn sogar, und
es spricht sehr für die Bonhommie Varnhagens, daß -- er selber dieser Er¬
zähler ist! Gern eclipsirt er sich, um das Licht seiner Frau desto Heller strahlen
zu lassen. -- Es ist der von uns schon erwähnte Artikel aus den Grenzboten.
Ueber Rachel macht er eine sehr feine und richtige Bemerkung. "Ich betrach¬
tete mit Wohlgefallen ihre Art einzuwirken und zu beleben, erkannte darin
ein wahrhaftes Talent, und fragte mich im Stillen, auf welche Gaben und
Kräfte der Seele wol vorzugsweise dieses Talent sich gründe? Der Geist war
esgnicht allein, die Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden
schien nicht grade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen
zu müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir plötz¬
lich darbot: ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil der ge¬
selligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen, welche sie sah,
ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder, wenigstens für den
Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot, und nicht nur ein allgemein
menschliches, sondern auch ein individuelles, was freilich nur durch Einsicht
und Eingehen in das Wesen jedes Einzelnen möglich war. Eine ebenso gütige
als blitzschnelle Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit,^ an jedem Menschen
auf der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Licht her-
vorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften Seiten von
selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise mit jedem Einzelnen
eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf irgend einem Punkt in echtem
Verhältniß, das natürlich in den mannigfachsten Richtungen und Graden sich
schied und abstufte. Mit ihrem Willen war es nie, daß irgend jemand, sei
es Mann oder Frau, sich als leere Gesellschaftsdecoration, als leblose Salon¬
karyatide hielt; dagegen ich in andern Kreisen oft gesehen, daß, weil die
Leute mit ihren Werthen eigentlich durch nichts zusammenhingen, nichts mit
ihnen gemein hatten,. sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich
den geringsten zur bloßen Zimmersüllung dienten." -- Eine sehr anziehende


Mit großer Freude wird man dagegen die Denkwürdigkeiten über Nahe!
lesen — eigentlich ist das ganze Buch, wie alle Bücher Varnhagens, von
süßer Pietät für diese bedeutende Frau durchflochten. Der eine Abschnitt „der
Salon der Frau von Varnhagen, Berlin im März 1830" schildert die be¬
deutendsten Männer und Frauen dieser Epoche, die bei Rahel verkehrten,
und sührt an einem Abend zusammen, was sich in der Wirklichkeit wol durch
einen längern Zeitraum zersplittert haben mag. „Herrn v. Varnhagen," sagt
der Erzähler, „hatte ich schon öfters gesehn und auch flüchtig gesprochen, allein
ich bekenne, daß er wenig Anziehendes für mich besaß, er hatte etwas schar¬
fes und Ironisches, das mir ganz mißfiel u. s. w." Auch im weitern Verlauf
des Abends versäumt der Erzähler keine Gelegenheit, zu bemerken, daß ihm
Herr v. Varnhagen ganz und gar nicht gefällt; er persistirt ihn sogar, und
es spricht sehr für die Bonhommie Varnhagens, daß — er selber dieser Er¬
zähler ist! Gern eclipsirt er sich, um das Licht seiner Frau desto Heller strahlen
zu lassen. — Es ist der von uns schon erwähnte Artikel aus den Grenzboten.
Ueber Rachel macht er eine sehr feine und richtige Bemerkung. „Ich betrach¬
tete mit Wohlgefallen ihre Art einzuwirken und zu beleben, erkannte darin
ein wahrhaftes Talent, und fragte mich im Stillen, auf welche Gaben und
Kräfte der Seele wol vorzugsweise dieses Talent sich gründe? Der Geist war
esgnicht allein, die Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden
schien nicht grade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen
zu müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir plötz¬
lich darbot: ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil der ge¬
selligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen, welche sie sah,
ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder, wenigstens für den
Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot, und nicht nur ein allgemein
menschliches, sondern auch ein individuelles, was freilich nur durch Einsicht
und Eingehen in das Wesen jedes Einzelnen möglich war. Eine ebenso gütige
als blitzschnelle Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit,^ an jedem Menschen
auf der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Licht her-
vorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften Seiten von
selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise mit jedem Einzelnen
eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf irgend einem Punkt in echtem
Verhältniß, das natürlich in den mannigfachsten Richtungen und Graden sich
schied und abstufte. Mit ihrem Willen war es nie, daß irgend jemand, sei
es Mann oder Frau, sich als leere Gesellschaftsdecoration, als leblose Salon¬
karyatide hielt; dagegen ich in andern Kreisen oft gesehen, daß, weil die
Leute mit ihren Werthen eigentlich durch nichts zusammenhingen, nichts mit
ihnen gemein hatten,. sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich
den geringsten zur bloßen Zimmersüllung dienten." — Eine sehr anziehende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/202>, abgerufen am 22.12.2024.