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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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einfachen, aber unendlich anziehenden Zügen zeichnet. Keusch und sittsam, in
ihr goldenes Haar gehüllt, sucht sie sich den Blicken, in welchen bereits Liebes¬
feuer entglimmt, zu entziehen. Doch vergebens. Im nächsten Bilde sehen
wir die Jungfrau bereits, von den Armen des Jünglings gestützt, ihr Versteck
verlassen, geleiten sie weiter in dasKönigsschloß und wohnen der Brnutschmückung
bei. Ueber alle diese Bilder weht ein Hauch der Anmuth und der Lieblich¬
keit, alle Formen und Bewegungen durchzieht ein Wohllaut, wie er kaum besser
und reiner gedacht werden kann. Gleich einer h. Elisabeth gewahren wir im
siebenten Felde das junge Königsgemal am Arme des (vielleicht nicht genug
individualisirten) Gatten Almosen austheilen. War es in den vorangehenden
Bildern der lautere Schönheitssinn, den wir an dein Meister bewunderten, so
fesselt uns hier die ergreifende Charakteristik der Bettlergruppe. Hunger und
Elend, körperliche Krüppelhaftigkeit und geistige Verwahrlosung treten uns in
schneidenden Gestalten entgegen. Welch entsetzlicher Jammer blickt nicht na¬
mentlich aus den Zügen des vordersten Bettelknaben! Nur ein Nest von
menschlicher Form ist ihm übriggeblieben, um die Verthierung, die Stumpf¬
heit desto unheimlicher hervorzuheben. Aus der grellen Wirklichkeit führt uns
das nächste Bild in eine nächtliche Kummcrwelt. Das beharrliche Schweigen
hat die getreue Schwester schon längst verdächtigt, selbst der Gatte kann sich
des Mißtrauens kaum erwehren, als er sie in nächtlicher Stille, statt an sei¬
ner Seite ruhend, emsig die Spindel drehend gewahrt. Geistreich ist hier in
der Färbung ein grauer, nebelhafter Ton angeschlagen, indem er das Geister¬
hafte der ganzen Erscheinung andeutet, und so die späteren Vorgänge, die
Nachgiebigkeit des Königssohnes gegen die Ankläger der Zauberin motivirt.
Im neunten Bilde tritt die Katastrophe ein. Die schweigsame Königin hat
ein Zwillingspaar geboren, unter den Händen der Hebamme fliegen sie aber
als putzige Naben empor. Schrecken und Entsetzen malt sich in den Zügen
der Umstehenden. Während die Einen überrascht von der ungeahnten Ver¬
wandlung furchtsam die ungeschickten Nabenjnngen abwehren, haben die An¬
dern bereits den bösen Zauber gerochen und ihr Urtheil über die unglückliche
Mutter, die im Hintergrunde ruht, und resignirt zur herbeigeeilten Fee blickt
gefällt. Die zahlreichen Beschauer, die namentlich dieses Bild mit stets frischer
Theilnahme betrachten, glauben zuerst, es gehe nichts über die Lebendigkeit
und echt dramatische Kraft der Schilderung der vordem Gruppen. Erblicken
sie aber die Wöchnerin, die, noch verschönt durch das Muttergefühl, so still
und innig ihrem Schicksal entgegenharrt, bei welcher selbst der Kampf zwischen
Mutter und Schwesterliebe nicht die ursprüngliche Holdseligkeit trüben kann,
so begreifen sie nicht, wie sie noch für eine andere Gestalt auf dem Bilde ein
Auge haben können. Je länger sie aber in der Anschauung beharren, und
nur gewaltsam kann man sich von dem Werke trennen, desto klarer wird die


einfachen, aber unendlich anziehenden Zügen zeichnet. Keusch und sittsam, in
ihr goldenes Haar gehüllt, sucht sie sich den Blicken, in welchen bereits Liebes¬
feuer entglimmt, zu entziehen. Doch vergebens. Im nächsten Bilde sehen
wir die Jungfrau bereits, von den Armen des Jünglings gestützt, ihr Versteck
verlassen, geleiten sie weiter in dasKönigsschloß und wohnen der Brnutschmückung
bei. Ueber alle diese Bilder weht ein Hauch der Anmuth und der Lieblich¬
keit, alle Formen und Bewegungen durchzieht ein Wohllaut, wie er kaum besser
und reiner gedacht werden kann. Gleich einer h. Elisabeth gewahren wir im
siebenten Felde das junge Königsgemal am Arme des (vielleicht nicht genug
individualisirten) Gatten Almosen austheilen. War es in den vorangehenden
Bildern der lautere Schönheitssinn, den wir an dein Meister bewunderten, so
fesselt uns hier die ergreifende Charakteristik der Bettlergruppe. Hunger und
Elend, körperliche Krüppelhaftigkeit und geistige Verwahrlosung treten uns in
schneidenden Gestalten entgegen. Welch entsetzlicher Jammer blickt nicht na¬
mentlich aus den Zügen des vordersten Bettelknaben! Nur ein Nest von
menschlicher Form ist ihm übriggeblieben, um die Verthierung, die Stumpf¬
heit desto unheimlicher hervorzuheben. Aus der grellen Wirklichkeit führt uns
das nächste Bild in eine nächtliche Kummcrwelt. Das beharrliche Schweigen
hat die getreue Schwester schon längst verdächtigt, selbst der Gatte kann sich
des Mißtrauens kaum erwehren, als er sie in nächtlicher Stille, statt an sei¬
ner Seite ruhend, emsig die Spindel drehend gewahrt. Geistreich ist hier in
der Färbung ein grauer, nebelhafter Ton angeschlagen, indem er das Geister¬
hafte der ganzen Erscheinung andeutet, und so die späteren Vorgänge, die
Nachgiebigkeit des Königssohnes gegen die Ankläger der Zauberin motivirt.
Im neunten Bilde tritt die Katastrophe ein. Die schweigsame Königin hat
ein Zwillingspaar geboren, unter den Händen der Hebamme fliegen sie aber
als putzige Naben empor. Schrecken und Entsetzen malt sich in den Zügen
der Umstehenden. Während die Einen überrascht von der ungeahnten Ver¬
wandlung furchtsam die ungeschickten Nabenjnngen abwehren, haben die An¬
dern bereits den bösen Zauber gerochen und ihr Urtheil über die unglückliche
Mutter, die im Hintergrunde ruht, und resignirt zur herbeigeeilten Fee blickt
gefällt. Die zahlreichen Beschauer, die namentlich dieses Bild mit stets frischer
Theilnahme betrachten, glauben zuerst, es gehe nichts über die Lebendigkeit
und echt dramatische Kraft der Schilderung der vordem Gruppen. Erblicken
sie aber die Wöchnerin, die, noch verschönt durch das Muttergefühl, so still
und innig ihrem Schicksal entgegenharrt, bei welcher selbst der Kampf zwischen
Mutter und Schwesterliebe nicht die ursprüngliche Holdseligkeit trüben kann,
so begreifen sie nicht, wie sie noch für eine andere Gestalt auf dem Bilde ein
Auge haben können. Je länger sie aber in der Anschauung beharren, und
nur gewaltsam kann man sich von dem Werke trennen, desto klarer wird die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/76>, abgerufen am 06.02.2025.