Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band."Sie hätten uns nichts Interessanteres senden -können; aber möchte man nicht Seit der Mitte des zweiten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts begann der „Sie hätten uns nichts Interessanteres senden -können; aber möchte man nicht Seit der Mitte des zweiten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts begann der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0503" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266312"/> <p xml:id="ID_1430" prev="#ID_1429"> „Sie hätten uns nichts Interessanteres senden -können; aber möchte man nicht<lb/> darüber weinen? Wenn man so eine ganze Nation und ein ganzes Land<lb/> blos als eine Ergötzung für sich betrachtet, in der ganzen Welt und Natur<lb/> nichts sieht, als was zu einer unendlichen Decoration des erbärmlichen Lebens<lb/> gehört, alles geistig und menschlich Große, alles was zum Herzen spricht, wenn<lb/> es da ist, vornehm beschaut, wenn es vom Entgegengesetzten verdrängt und<lb/> überwältigt worden, sich an der komischen Seite des Letztern ergötzt. — Mir<lb/> ist das eigentlich gräßlich; vielleicht persönlich mehr als ich es andern zumu-<lb/> then möchte, aber dem Wesen nach erlasse ich es keinem. Ich weiß sehr wohl,<lb/> daß ich in das andre Extrem gehe, daß mein politisch-historischer Sinn sich<lb/> schon ganz mit dem befriedigt fühlt, wofür Goethe keinen Sinn hatte, und<lb/> daß ich nicht allein im göttlichen Tirol, sondern in Moor und Haide unter<lb/> freien Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt lebe und keine Kunst ver¬<lb/> misse. Aber die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte, obgleich allemal<lb/> zwischen zwei Extremen." — Hätte Niebuhr die Städte Latinas durchwandern<lb/> und mit seinem Adlerauge nach den Trümmern der alten Welt nicht blos nach<lb/> denen, die in Monumenten, sondern auch nach denen, die in Sitten, Gebräuchen<lb/> und Zuständen erhalten sind, spähen können: so würde er sich in Italien glücklicher<lb/> gefühlt haben. Nur einmal wird ihm wahrhaft wohl, in Temi, wo er an fünfzig<lb/> unversehrte altrömische Häuser fand und die alte Grenzscheidekunst und Weinbenn-<lb/> tung noch in praktischer Anwendung, wo er den Kanal des Curius in seiner ganzen<lb/> Ausdehnung verfolgte (S. 244 — 247). Aber Latium .war jenseit Frascati<lb/> und Albano für ihn ganz unzugänglich: „und dies wäre eigentlich das, warum<lb/> der Aufenthalt hier mir für die Geschichte viel hätte werth sein können"<lb/> (S. 281). Selbst die herrliche Aussicht auf die latinische Ebene und die Ge¬<lb/> birge konnte ihn nicht erfreun. „Wenn man hinderte auf das Gebirge, wo<lb/> Hunderte vor Hunger sterben, und wo auch die kindische Fröhlichkeit, welche<lb/> sonst den Fremden anzog, wie hier ganz erloschen ist, wo man lebt, weil man ><lb/> das Unglück hat geboren zu sein — da muß man ganz anders gestimmt sein<lb/> als ich es bin, um sich des Schauspiels freuen zu können" (S. 230).</p><lb/> <p xml:id="ID_1431" next="#ID_1432"> Seit der Mitte des zweiten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts begann der<lb/> Strom der Reisenden mit erneuter Stärke nach Italien zu finden, nachdem<lb/> er in den Kriegsjahren spärlicher geflossen war. Von nun an ist es nicht<lb/> mehr möglich, auch nur die wichtigern Berichte und Beschreibungen, mit denen<lb/> der Büchermarkt in jeder Messe überschwemmt wurde, hervorzuheben. Wenn<lb/> man eine Anzahl dieser Bücher durchblättert, die Jahr für Jahr die schon<lb/> tausendmal beschriebenen Gegenstände aufs neue schildern, so staunt man über<lb/> den Umfang und die Intensität des Interesses für Italien im deutschen Publi-<lb/> cum, das nie müde geworden ist, sich immer dasselbe wiederholen zu lassen.<lb/> Von den Büchern über Italien, die vor einem Menschenalter viel gelesen our-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0503]
„Sie hätten uns nichts Interessanteres senden -können; aber möchte man nicht
darüber weinen? Wenn man so eine ganze Nation und ein ganzes Land
blos als eine Ergötzung für sich betrachtet, in der ganzen Welt und Natur
nichts sieht, als was zu einer unendlichen Decoration des erbärmlichen Lebens
gehört, alles geistig und menschlich Große, alles was zum Herzen spricht, wenn
es da ist, vornehm beschaut, wenn es vom Entgegengesetzten verdrängt und
überwältigt worden, sich an der komischen Seite des Letztern ergötzt. — Mir
ist das eigentlich gräßlich; vielleicht persönlich mehr als ich es andern zumu-
then möchte, aber dem Wesen nach erlasse ich es keinem. Ich weiß sehr wohl,
daß ich in das andre Extrem gehe, daß mein politisch-historischer Sinn sich
schon ganz mit dem befriedigt fühlt, wofür Goethe keinen Sinn hatte, und
daß ich nicht allein im göttlichen Tirol, sondern in Moor und Haide unter
freien Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt lebe und keine Kunst ver¬
misse. Aber die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte, obgleich allemal
zwischen zwei Extremen." — Hätte Niebuhr die Städte Latinas durchwandern
und mit seinem Adlerauge nach den Trümmern der alten Welt nicht blos nach
denen, die in Monumenten, sondern auch nach denen, die in Sitten, Gebräuchen
und Zuständen erhalten sind, spähen können: so würde er sich in Italien glücklicher
gefühlt haben. Nur einmal wird ihm wahrhaft wohl, in Temi, wo er an fünfzig
unversehrte altrömische Häuser fand und die alte Grenzscheidekunst und Weinbenn-
tung noch in praktischer Anwendung, wo er den Kanal des Curius in seiner ganzen
Ausdehnung verfolgte (S. 244 — 247). Aber Latium .war jenseit Frascati
und Albano für ihn ganz unzugänglich: „und dies wäre eigentlich das, warum
der Aufenthalt hier mir für die Geschichte viel hätte werth sein können"
(S. 281). Selbst die herrliche Aussicht auf die latinische Ebene und die Ge¬
birge konnte ihn nicht erfreun. „Wenn man hinderte auf das Gebirge, wo
Hunderte vor Hunger sterben, und wo auch die kindische Fröhlichkeit, welche
sonst den Fremden anzog, wie hier ganz erloschen ist, wo man lebt, weil man >
das Unglück hat geboren zu sein — da muß man ganz anders gestimmt sein
als ich es bin, um sich des Schauspiels freuen zu können" (S. 230).
Seit der Mitte des zweiten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts begann der
Strom der Reisenden mit erneuter Stärke nach Italien zu finden, nachdem
er in den Kriegsjahren spärlicher geflossen war. Von nun an ist es nicht
mehr möglich, auch nur die wichtigern Berichte und Beschreibungen, mit denen
der Büchermarkt in jeder Messe überschwemmt wurde, hervorzuheben. Wenn
man eine Anzahl dieser Bücher durchblättert, die Jahr für Jahr die schon
tausendmal beschriebenen Gegenstände aufs neue schildern, so staunt man über
den Umfang und die Intensität des Interesses für Italien im deutschen Publi-
cum, das nie müde geworden ist, sich immer dasselbe wiederholen zu lassen.
Von den Büchern über Italien, die vor einem Menschenalter viel gelesen our-
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