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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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in dem er höchstens Talent sieht? einem Dichter gegenüber, der doch noch
zu warnen ist! Soll er in gewissenlosen Leichtsinn, um ihm ein paar an¬
genehme Stunden zu machen, ihn wol gar noch auffordern, bei seinem
Unternehmen zu bleiben, in der Poesie den Mittelpunkt seiner Existenz zu
suchen, der er doch im höhern Sinn nicht gewachsen ist? Betrachtet sich der
Kritiker als den Freund des Dichters, so wäre es vielmehr seine heilige
Pflicht, ihn zu warnen, ihn vor allen Dingen aufzufordern, die Poesie so zu
betrachten, wie sie vor hundert Jahren betrachtet wurde, als eine erhebende
Beschäftigung der Mußestunden, den Ernst des Lebens aber anderwärts zu
suchen! Diese undankbare Aufgabe in jedem Fall durchzuführen ist freilich
nicht möglich, aber von Zeit zu Zeit muß man doch seinem Gewissen Luft
machen. Wenn freilich der Dichter ausruft "die Garde stirbt, doch sie ergibt
sich nicht!" so ist nichts weiter dagegen zu sagen. Jeder Einzelne muß am
besten wissen, was ihm frommt. Auch in den vorliegenden Gedichten finden
wir mehr Anempsindung als Empfindung, mehr Nachklänge als eigne Melo¬
dien, und am gelungensten sind daher die bewußten Parodien, so z. B. der
Gesang an die kritischen Nachteulen -- denn wie bei den meisten der gegen¬
wärtigen Dichter ist auch dem unsrigen die Welt hauptsächlich mit Recensenten
angefüllt.


"Werthe Herren! es gab schönre Zeiten
Als die unsern -- das ist nicht zu streiten!
Größere Dichter haben einst gelebt.
Könnten tausend Schwätzer davon schweigen ---
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die in Weimar man vom Boden hebt.
Doch es ist dahin, es ist entschwunden
Dieses hoch begünstigte Geschlecht!
Wir, wir leben, unser sind die Stunden --
Und der Lebende hat Recht!" ,

Einem jener Heroen von Weimar, den wir in diesem Sinn schon öfters
angeführt, geben wir auch diesmal für uns das Wort. "Die deutsche Sprache,
sagt Goethe, ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem
jeden gegeben ist. sowol in Prosa als in Rhythmen und Reimen, sich dem
Gegenstand wie der Empfindung gemäß, nach seinem Vermögen glücklich aus-
zudrücken. Hieraus folgt nun. daß jeder, welcher durch Hören und Lesen sich
auf einen gewissen Grad gebildet fühlt, seine Gedanken und Urtheile, sein Er¬
kennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit mitzutheilen weiß. Schwer,
vielleicht unmöglich wird es aber dem Jüngern einzusehn, daß damit im
höhern Sinn noch wenig gethan ist." "Leider hat ein wohlwollender Beob¬
achter gar bald zu bemerken, daß ein inneres jugendliches Behagen auf ein¬
mal abnimmt, daß Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach


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in dem er höchstens Talent sieht? einem Dichter gegenüber, der doch noch
zu warnen ist! Soll er in gewissenlosen Leichtsinn, um ihm ein paar an¬
genehme Stunden zu machen, ihn wol gar noch auffordern, bei seinem
Unternehmen zu bleiben, in der Poesie den Mittelpunkt seiner Existenz zu
suchen, der er doch im höhern Sinn nicht gewachsen ist? Betrachtet sich der
Kritiker als den Freund des Dichters, so wäre es vielmehr seine heilige
Pflicht, ihn zu warnen, ihn vor allen Dingen aufzufordern, die Poesie so zu
betrachten, wie sie vor hundert Jahren betrachtet wurde, als eine erhebende
Beschäftigung der Mußestunden, den Ernst des Lebens aber anderwärts zu
suchen! Diese undankbare Aufgabe in jedem Fall durchzuführen ist freilich
nicht möglich, aber von Zeit zu Zeit muß man doch seinem Gewissen Luft
machen. Wenn freilich der Dichter ausruft „die Garde stirbt, doch sie ergibt
sich nicht!" so ist nichts weiter dagegen zu sagen. Jeder Einzelne muß am
besten wissen, was ihm frommt. Auch in den vorliegenden Gedichten finden
wir mehr Anempsindung als Empfindung, mehr Nachklänge als eigne Melo¬
dien, und am gelungensten sind daher die bewußten Parodien, so z. B. der
Gesang an die kritischen Nachteulen — denn wie bei den meisten der gegen¬
wärtigen Dichter ist auch dem unsrigen die Welt hauptsächlich mit Recensenten
angefüllt.


„Werthe Herren! es gab schönre Zeiten
Als die unsern — das ist nicht zu streiten!
Größere Dichter haben einst gelebt.
Könnten tausend Schwätzer davon schweigen -—
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die in Weimar man vom Boden hebt.
Doch es ist dahin, es ist entschwunden
Dieses hoch begünstigte Geschlecht!
Wir, wir leben, unser sind die Stunden —
Und der Lebende hat Recht!" ,

Einem jener Heroen von Weimar, den wir in diesem Sinn schon öfters
angeführt, geben wir auch diesmal für uns das Wort. „Die deutsche Sprache,
sagt Goethe, ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem
jeden gegeben ist. sowol in Prosa als in Rhythmen und Reimen, sich dem
Gegenstand wie der Empfindung gemäß, nach seinem Vermögen glücklich aus-
zudrücken. Hieraus folgt nun. daß jeder, welcher durch Hören und Lesen sich
auf einen gewissen Grad gebildet fühlt, seine Gedanken und Urtheile, sein Er¬
kennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit mitzutheilen weiß. Schwer,
vielleicht unmöglich wird es aber dem Jüngern einzusehn, daß damit im
höhern Sinn noch wenig gethan ist." „Leider hat ein wohlwollender Beob¬
achter gar bald zu bemerken, daß ein inneres jugendliches Behagen auf ein¬
mal abnimmt, daß Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/443>, abgerufen am 03.07.2024.