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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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gewinnt auch in Deutschland immer mehr Eingang; in England hat, so
lange es überhaupt eine Romandichtung gibt, noch niemand daran gezweifelt.
Bei mehren Romanen, die uns in den letzten Tagen zugekommen sind, haben
wir erfreuliche Fortschritte nach dieser Seite wahrgenommen. -- So zeigt die
Novelle: Abenteuer eines Emporkömmlings. (2 Bde. Frankfurt a. M.,
Sauerländer.) eine vielseitige Kenntniß des Lebens. Der Verfasser ist
mit den verschiedensten Schichten der Gesellschaft in Berührung gekommen,
und hat sie nicht blos auf der Oberfläche beobachtet, sondern sich bemüht, in
ihre Tiefen einzudringen. Seine Figuren, obgleich oft nur in leichten Um¬
rissen gegeben, haben eine bestimmte Physiognomie und prägen sich dem Ge¬
dächtniß ein. Ueberall schimmert eine klare Vorstellung von den Verzwei¬
gungen des Verkehrs, von den Sitten und Vorurtheilen des bürgerlichen
Lebens durch. Am bekanntesten scheint der Verfasser in Oestreich zu sein.
Die Personen bewegen sich trotz ihrer Ueberfülle mit einer gewissen Freiheit,
und wenn sich auch die Scenen etwas gar zu bunt durcheinanderdrängen,
so verliert man doch den Faden nicht aus der Hand. Sehr störend sind da"
gegen die Jncorrectheiten der Sprache, die zuweilen gradezu eine unvoll¬
kommene Schulbildung verrathen. Noch zu einer Bemerkung gibt der Roman
Veranlassung, die sich auf die ganze Gattung bezieht. Seit etwa zwanzig
bis dreißig Jahren hört man vielfach über die Unsittlichkeit unsrer Dichtungen
klagen, und die Dichter verstehn das gewöhnlich so, als ob die kritischen
Moralisten ihnen die Anwendung von Gift, Dolch, Brand und ähnlichen
romantischen Ingredienzen oder die Ausmalung sinnlicher Scenen untersagen
wollten. So ist es aber nicht gemeint. Was uns bei dem neuen deutschen
Roman häusig auf das peinlichste berührt, ist die Unfähigkeit der Dichter,
ihre Helden, und zwar ihre eigentlichen Helden, so handeln zu lassen, wie
eine wohlgeschaffene Seele handeln muß, ohne weiter zu reflectiren. Es sind
nicht die Verstöße gegen den Katechismus, sondern die Verstöße gegen die
Elementargrammatik des sittlichen Empfindens, deren man sich in der Form
der Regel gar nicht mehr bewußt werden darf, sobald man ins handelnde
Leben eintritt. Wir wollen aus dem vorliegenden Roman einen Zug an¬
führen, um uns deutlich zu machen.

Der edelste Held des Romans, ein Graf Dei Ponti. ist durch einen
spitzbübischen Bankier um sein Vermögen betrogen. Infolge dessen schreibt
er ihm von Paris aus einen groben Brief, und der Bankier schickt ihm ge-
Wissermassen zur Entschädigung ein Gnadengeschenk von 5000 Gulden.
Natürlich erwartet man, daß er sie verächtlich zurückschicken wird. Inzwischen
beschließt er doch, zwanzig Franken davon zu nehmen, um bis zu einer ge-,
wissen Frist, wo er Geld erwartet, damit auszukommen. Ein geistvoller, sehr
dürftiger Mann, Namens Strömfeld, hat sich seiner angenommen und ihm


gewinnt auch in Deutschland immer mehr Eingang; in England hat, so
lange es überhaupt eine Romandichtung gibt, noch niemand daran gezweifelt.
Bei mehren Romanen, die uns in den letzten Tagen zugekommen sind, haben
wir erfreuliche Fortschritte nach dieser Seite wahrgenommen. — So zeigt die
Novelle: Abenteuer eines Emporkömmlings. (2 Bde. Frankfurt a. M.,
Sauerländer.) eine vielseitige Kenntniß des Lebens. Der Verfasser ist
mit den verschiedensten Schichten der Gesellschaft in Berührung gekommen,
und hat sie nicht blos auf der Oberfläche beobachtet, sondern sich bemüht, in
ihre Tiefen einzudringen. Seine Figuren, obgleich oft nur in leichten Um¬
rissen gegeben, haben eine bestimmte Physiognomie und prägen sich dem Ge¬
dächtniß ein. Ueberall schimmert eine klare Vorstellung von den Verzwei¬
gungen des Verkehrs, von den Sitten und Vorurtheilen des bürgerlichen
Lebens durch. Am bekanntesten scheint der Verfasser in Oestreich zu sein.
Die Personen bewegen sich trotz ihrer Ueberfülle mit einer gewissen Freiheit,
und wenn sich auch die Scenen etwas gar zu bunt durcheinanderdrängen,
so verliert man doch den Faden nicht aus der Hand. Sehr störend sind da«
gegen die Jncorrectheiten der Sprache, die zuweilen gradezu eine unvoll¬
kommene Schulbildung verrathen. Noch zu einer Bemerkung gibt der Roman
Veranlassung, die sich auf die ganze Gattung bezieht. Seit etwa zwanzig
bis dreißig Jahren hört man vielfach über die Unsittlichkeit unsrer Dichtungen
klagen, und die Dichter verstehn das gewöhnlich so, als ob die kritischen
Moralisten ihnen die Anwendung von Gift, Dolch, Brand und ähnlichen
romantischen Ingredienzen oder die Ausmalung sinnlicher Scenen untersagen
wollten. So ist es aber nicht gemeint. Was uns bei dem neuen deutschen
Roman häusig auf das peinlichste berührt, ist die Unfähigkeit der Dichter,
ihre Helden, und zwar ihre eigentlichen Helden, so handeln zu lassen, wie
eine wohlgeschaffene Seele handeln muß, ohne weiter zu reflectiren. Es sind
nicht die Verstöße gegen den Katechismus, sondern die Verstöße gegen die
Elementargrammatik des sittlichen Empfindens, deren man sich in der Form
der Regel gar nicht mehr bewußt werden darf, sobald man ins handelnde
Leben eintritt. Wir wollen aus dem vorliegenden Roman einen Zug an¬
führen, um uns deutlich zu machen.

Der edelste Held des Romans, ein Graf Dei Ponti. ist durch einen
spitzbübischen Bankier um sein Vermögen betrogen. Infolge dessen schreibt
er ihm von Paris aus einen groben Brief, und der Bankier schickt ihm ge-
Wissermassen zur Entschädigung ein Gnadengeschenk von 5000 Gulden.
Natürlich erwartet man, daß er sie verächtlich zurückschicken wird. Inzwischen
beschließt er doch, zwanzig Franken davon zu nehmen, um bis zu einer ge-,
wissen Frist, wo er Geld erwartet, damit auszukommen. Ein geistvoller, sehr
dürftiger Mann, Namens Strömfeld, hat sich seiner angenommen und ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/440>, abgerufen am 25.07.2024.