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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Declamationen zu nehmen seien; sie ließ sich auch durch das spätere "mit dein
Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei!" nicht irren. Wenn
wir Schillers Briefe vor seiner Hochzeit mit dem vergleichen, was wir über
sein späteres Leben wissen, so finden wir, daß er die wahre Liebe erst in der
Ehe kennen lernte.

Und dies ist der Punkt, der uns aus ein neues seltsames Mißverständnis
führt. Man pflegt Goethe eiuen objectiven, Schiller einen subjectiven Schrift¬
steller zu nennen, während doch das Gegentheil evident ist. Es gibt keinen
subjcctivern Schriftsteller als Goethe -- dieses Wort in gutem Sinn ge¬
nommen; und es gibt keinen Dichter, der so wenig subjectiv wäre als Schiller.
Die Subjektivste Form der Dichtkunst ist die Lyrik, das subjectivste Gefühl des
Menschen ist die Liebe, in der eigentlichen Lyrik aber, das Didaktische und
die Ballade bei Seite gesetzt, ist Schiller immer nur ein Dichter dritten Ranges,
und die Liebe hat er nie zu schildern vermocht. Und nun halte man dagegen
den wunderbaren Zauber, mit dem Goethe die süßen Geheimnisse der Liebe
aus der innersten Tiefe des Herzens herauszulocken versteht. Seine Gedichte
von der frühesten Jugend bis zum Greisenalter, bis zur Trilogie der Leiden¬
schaft sind von jenem unnennbaren Liebreiz durchhaucht, der nur aus einer
vollen Seele zu erklären ist. Es ist aber nicht blos die Liebe, alles was ins
Gebiet der Träumerei fällt, findet bei ihm das mächtigste, das hinreißendste
Wort; von den kleinen Mondschein- und Wellenliedern an bis zu dem Herz-
durchbebenden Angstruf des Faust, überall ist es das überströmende Gefühl,
das den Hörer mit sich fortreißt; nicht die Gestaltung, nicht die Charakteristik,
nicht die künstlerische Ordnung, die im Gegentheil in seinen besten Werken
sehr viel zu wünschen übrigläßt. Wo findet sich in Schillers lyrischen Ge¬
dichten auch nur ein Ton, der sich mit diesen seelenvollen Accorden vergleichen
ließe? Aber auch wo wir ins Drama übergehn und eine verwandte Auf¬
gabe vergleichen, haben wir dasselbe Resultat. sowol Iphigenie alsThekla be¬
handeln das Problem, wie ein jungfräuliches reines Gemüth sich in den
Collisionsfällen der Wirklichkeit verhält, die mit heimtückischer Schlinge das
Gewissen wie das Rechtsgefühl umstricken. Aber in der Iphigenie ist alles
innerlichst empfunden, in der Thekla alles ausgeklügelt. Und wenn diese
Zeugnisse noch nicht genügen, so vergleiche man die Jugendbriefe der beiden
Dichter, in denen eine Herzensangelegenheit behandelt wird: man wird er¬
kennen, daß von Subjectivität im guten Sinn nur bei Goethe und nicht
bei Schiller die Rede sein kann.

Darum ist es eine schreiende Ungerechtigkeit gegen Schiller, wenn man
ihn im Gegensatz zu Goethe als. einen subjectiven Dichter bezeichnet. Was
bei ihm blos subjectiv, blos idealistisch ist, ist schlecht oder wenigstens unvoll¬
kommen. 'Man will damit auch immer einen Tadel aussprechen, man ver-


Declamationen zu nehmen seien; sie ließ sich auch durch das spätere „mit dein
Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei!" nicht irren. Wenn
wir Schillers Briefe vor seiner Hochzeit mit dem vergleichen, was wir über
sein späteres Leben wissen, so finden wir, daß er die wahre Liebe erst in der
Ehe kennen lernte.

Und dies ist der Punkt, der uns aus ein neues seltsames Mißverständnis
führt. Man pflegt Goethe eiuen objectiven, Schiller einen subjectiven Schrift¬
steller zu nennen, während doch das Gegentheil evident ist. Es gibt keinen
subjcctivern Schriftsteller als Goethe — dieses Wort in gutem Sinn ge¬
nommen; und es gibt keinen Dichter, der so wenig subjectiv wäre als Schiller.
Die Subjektivste Form der Dichtkunst ist die Lyrik, das subjectivste Gefühl des
Menschen ist die Liebe, in der eigentlichen Lyrik aber, das Didaktische und
die Ballade bei Seite gesetzt, ist Schiller immer nur ein Dichter dritten Ranges,
und die Liebe hat er nie zu schildern vermocht. Und nun halte man dagegen
den wunderbaren Zauber, mit dem Goethe die süßen Geheimnisse der Liebe
aus der innersten Tiefe des Herzens herauszulocken versteht. Seine Gedichte
von der frühesten Jugend bis zum Greisenalter, bis zur Trilogie der Leiden¬
schaft sind von jenem unnennbaren Liebreiz durchhaucht, der nur aus einer
vollen Seele zu erklären ist. Es ist aber nicht blos die Liebe, alles was ins
Gebiet der Träumerei fällt, findet bei ihm das mächtigste, das hinreißendste
Wort; von den kleinen Mondschein- und Wellenliedern an bis zu dem Herz-
durchbebenden Angstruf des Faust, überall ist es das überströmende Gefühl,
das den Hörer mit sich fortreißt; nicht die Gestaltung, nicht die Charakteristik,
nicht die künstlerische Ordnung, die im Gegentheil in seinen besten Werken
sehr viel zu wünschen übrigläßt. Wo findet sich in Schillers lyrischen Ge¬
dichten auch nur ein Ton, der sich mit diesen seelenvollen Accorden vergleichen
ließe? Aber auch wo wir ins Drama übergehn und eine verwandte Auf¬
gabe vergleichen, haben wir dasselbe Resultat. sowol Iphigenie alsThekla be¬
handeln das Problem, wie ein jungfräuliches reines Gemüth sich in den
Collisionsfällen der Wirklichkeit verhält, die mit heimtückischer Schlinge das
Gewissen wie das Rechtsgefühl umstricken. Aber in der Iphigenie ist alles
innerlichst empfunden, in der Thekla alles ausgeklügelt. Und wenn diese
Zeugnisse noch nicht genügen, so vergleiche man die Jugendbriefe der beiden
Dichter, in denen eine Herzensangelegenheit behandelt wird: man wird er¬
kennen, daß von Subjectivität im guten Sinn nur bei Goethe und nicht
bei Schiller die Rede sein kann.

Darum ist es eine schreiende Ungerechtigkeit gegen Schiller, wenn man
ihn im Gegensatz zu Goethe als. einen subjectiven Dichter bezeichnet. Was
bei ihm blos subjectiv, blos idealistisch ist, ist schlecht oder wenigstens unvoll¬
kommen. 'Man will damit auch immer einen Tadel aussprechen, man ver-


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[0415] Declamationen zu nehmen seien; sie ließ sich auch durch das spätere „mit dein Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei!" nicht irren. Wenn wir Schillers Briefe vor seiner Hochzeit mit dem vergleichen, was wir über sein späteres Leben wissen, so finden wir, daß er die wahre Liebe erst in der Ehe kennen lernte. Und dies ist der Punkt, der uns aus ein neues seltsames Mißverständnis führt. Man pflegt Goethe eiuen objectiven, Schiller einen subjectiven Schrift¬ steller zu nennen, während doch das Gegentheil evident ist. Es gibt keinen subjcctivern Schriftsteller als Goethe — dieses Wort in gutem Sinn ge¬ nommen; und es gibt keinen Dichter, der so wenig subjectiv wäre als Schiller. Die Subjektivste Form der Dichtkunst ist die Lyrik, das subjectivste Gefühl des Menschen ist die Liebe, in der eigentlichen Lyrik aber, das Didaktische und die Ballade bei Seite gesetzt, ist Schiller immer nur ein Dichter dritten Ranges, und die Liebe hat er nie zu schildern vermocht. Und nun halte man dagegen den wunderbaren Zauber, mit dem Goethe die süßen Geheimnisse der Liebe aus der innersten Tiefe des Herzens herauszulocken versteht. Seine Gedichte von der frühesten Jugend bis zum Greisenalter, bis zur Trilogie der Leiden¬ schaft sind von jenem unnennbaren Liebreiz durchhaucht, der nur aus einer vollen Seele zu erklären ist. Es ist aber nicht blos die Liebe, alles was ins Gebiet der Träumerei fällt, findet bei ihm das mächtigste, das hinreißendste Wort; von den kleinen Mondschein- und Wellenliedern an bis zu dem Herz- durchbebenden Angstruf des Faust, überall ist es das überströmende Gefühl, das den Hörer mit sich fortreißt; nicht die Gestaltung, nicht die Charakteristik, nicht die künstlerische Ordnung, die im Gegentheil in seinen besten Werken sehr viel zu wünschen übrigläßt. Wo findet sich in Schillers lyrischen Ge¬ dichten auch nur ein Ton, der sich mit diesen seelenvollen Accorden vergleichen ließe? Aber auch wo wir ins Drama übergehn und eine verwandte Auf¬ gabe vergleichen, haben wir dasselbe Resultat. sowol Iphigenie alsThekla be¬ handeln das Problem, wie ein jungfräuliches reines Gemüth sich in den Collisionsfällen der Wirklichkeit verhält, die mit heimtückischer Schlinge das Gewissen wie das Rechtsgefühl umstricken. Aber in der Iphigenie ist alles innerlichst empfunden, in der Thekla alles ausgeklügelt. Und wenn diese Zeugnisse noch nicht genügen, so vergleiche man die Jugendbriefe der beiden Dichter, in denen eine Herzensangelegenheit behandelt wird: man wird er¬ kennen, daß von Subjectivität im guten Sinn nur bei Goethe und nicht bei Schiller die Rede sein kann. Darum ist es eine schreiende Ungerechtigkeit gegen Schiller, wenn man ihn im Gegensatz zu Goethe als. einen subjectiven Dichter bezeichnet. Was bei ihm blos subjectiv, blos idealistisch ist, ist schlecht oder wenigstens unvoll¬ kommen. 'Man will damit auch immer einen Tadel aussprechen, man ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/415>, abgerufen am 26.07.2024.