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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Freilich überwiegt bei der einen Classe die christliche, bei der andern die ger¬
manische, bei der dritten die griechische Bildung, aber es gibt keinen Einzigen,
bei dem nicht eine Mischung aus allen drei Elementen nachgewiesen werden
könnte. Auch Vilmar ist nicht blos Christ, er hat die classische Schule durch¬
gemacht und zeigt mitunter sogar nationale Anwandlungen. Derjenige Dich¬
ter, den man den großen Heiden zu nennen Pflegt, der mehr- als irgend ein
anderer auf den Namen eines Griechen Anspruch machen dürste, hat doch in
seinem schönsten griechischen Gedicht, der Iphigenie, die Seele des Weibes
mit den Augen angeschaut, die ihm das Christenthum geöffnet hat. Es ist
eine völlig ungerechtfertigte Gutmüthigkeit, wenn wir dem böswilligen
Vorgeben der sogenannten Rechtgläubigen, die uns vom Christenthum aus¬
schließen möchten, Folge geben. Wir sind keine Griechen, so viel wir auch den
Griechen verdanken, sondern Deutsche und Christen, so wenig wir uns auch
in der Lage befinden, alle Artikel des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses
zu beschwören. Die Sorte, die Vilmar Christen nennt, wird freilich voraus¬
sichtlich das Schicksal haben, das ihr Vilmar prophezeit, sie wird sich in ein
Zoar oder Pella flüchten d. h. in einen Conventikel oder in eine Sekte, und
das Weltgericht wird mit ihr nichts zu thun haben; denn vor sein Forum
gehören nur die Lebendigen und Existirenden.

Vilmars Christenthum unterscheidet sich wesentlich von dem Hengstenber-
gischen. Er sucht das Heil der Welt nicht in der Theologie, sondern im Prie-
sterthum. "Die Geltung, welche die theologische Wissenschaft bisher in der
Kirche gehabt hat als letzter Ausläufer der Lehrzeit, muß und wird nicht allein
sinken, sondern gänzlich aufhören. In der Zukunft, der wir entgegengehen,
ja in der Zeit, in die wir bereits eingetreten sind, gilt nur der Wille und die
That, die Kraft der Seele, welche die Kraft des Gebetes ist und die Macht
des Amtes, welches des Herrn ist. Von der alten rationalistischen oder ra¬
tionalisierenden Theologie kann schon jetzt nicht mehr die Rede sein; sie ist be¬
reits der Christenkinder Spott, Aber hüte man sich auch, selbst von der gläu¬
bigen Theologie Erfolge zu erwarten. Wer beten kann, wer auf das Amt
vertraut und auf die Zukunft des Herrn Christi hofft, der hat Muth, vollen
Muth, der hat Thatkraft, Zuversicht, Freudigkeit, -- er hat einen unerme߬
lichen Wirkungskreis und eine überreiche Ernte von Erfolgen." "Damit wir aber
nicht mißverstanden werden, so wollen wir ausdrücklich wiederholen, daß die
gesammte Lehre der Kirche, wie sie vom heiligen Geist geleitet in den 1800
Jahren zum Erlebniß der Christenwelt geworden ist, in eines jeden Be¬
wußtsein und Ueberzeugung hell und klar stehen müsse, vom apostolischen
Symbolum herab bis zur augsburger Confession, wenn die Zukunft uns ein
neues Erlebniß gewähren, wenn die Zukunft uns als ihre Kinder anerkennen
soll. Alle diese Lehren sind nicht dazu da, als Antiquitäten und Reliquien


Freilich überwiegt bei der einen Classe die christliche, bei der andern die ger¬
manische, bei der dritten die griechische Bildung, aber es gibt keinen Einzigen,
bei dem nicht eine Mischung aus allen drei Elementen nachgewiesen werden
könnte. Auch Vilmar ist nicht blos Christ, er hat die classische Schule durch¬
gemacht und zeigt mitunter sogar nationale Anwandlungen. Derjenige Dich¬
ter, den man den großen Heiden zu nennen Pflegt, der mehr- als irgend ein
anderer auf den Namen eines Griechen Anspruch machen dürste, hat doch in
seinem schönsten griechischen Gedicht, der Iphigenie, die Seele des Weibes
mit den Augen angeschaut, die ihm das Christenthum geöffnet hat. Es ist
eine völlig ungerechtfertigte Gutmüthigkeit, wenn wir dem böswilligen
Vorgeben der sogenannten Rechtgläubigen, die uns vom Christenthum aus¬
schließen möchten, Folge geben. Wir sind keine Griechen, so viel wir auch den
Griechen verdanken, sondern Deutsche und Christen, so wenig wir uns auch
in der Lage befinden, alle Artikel des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses
zu beschwören. Die Sorte, die Vilmar Christen nennt, wird freilich voraus¬
sichtlich das Schicksal haben, das ihr Vilmar prophezeit, sie wird sich in ein
Zoar oder Pella flüchten d. h. in einen Conventikel oder in eine Sekte, und
das Weltgericht wird mit ihr nichts zu thun haben; denn vor sein Forum
gehören nur die Lebendigen und Existirenden.

Vilmars Christenthum unterscheidet sich wesentlich von dem Hengstenber-
gischen. Er sucht das Heil der Welt nicht in der Theologie, sondern im Prie-
sterthum. „Die Geltung, welche die theologische Wissenschaft bisher in der
Kirche gehabt hat als letzter Ausläufer der Lehrzeit, muß und wird nicht allein
sinken, sondern gänzlich aufhören. In der Zukunft, der wir entgegengehen,
ja in der Zeit, in die wir bereits eingetreten sind, gilt nur der Wille und die
That, die Kraft der Seele, welche die Kraft des Gebetes ist und die Macht
des Amtes, welches des Herrn ist. Von der alten rationalistischen oder ra¬
tionalisierenden Theologie kann schon jetzt nicht mehr die Rede sein; sie ist be¬
reits der Christenkinder Spott, Aber hüte man sich auch, selbst von der gläu¬
bigen Theologie Erfolge zu erwarten. Wer beten kann, wer auf das Amt
vertraut und auf die Zukunft des Herrn Christi hofft, der hat Muth, vollen
Muth, der hat Thatkraft, Zuversicht, Freudigkeit, — er hat einen unerme߬
lichen Wirkungskreis und eine überreiche Ernte von Erfolgen." „Damit wir aber
nicht mißverstanden werden, so wollen wir ausdrücklich wiederholen, daß die
gesammte Lehre der Kirche, wie sie vom heiligen Geist geleitet in den 1800
Jahren zum Erlebniß der Christenwelt geworden ist, in eines jeden Be¬
wußtsein und Ueberzeugung hell und klar stehen müsse, vom apostolischen
Symbolum herab bis zur augsburger Confession, wenn die Zukunft uns ein
neues Erlebniß gewähren, wenn die Zukunft uns als ihre Kinder anerkennen
soll. Alle diese Lehren sind nicht dazu da, als Antiquitäten und Reliquien


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[0374] Freilich überwiegt bei der einen Classe die christliche, bei der andern die ger¬ manische, bei der dritten die griechische Bildung, aber es gibt keinen Einzigen, bei dem nicht eine Mischung aus allen drei Elementen nachgewiesen werden könnte. Auch Vilmar ist nicht blos Christ, er hat die classische Schule durch¬ gemacht und zeigt mitunter sogar nationale Anwandlungen. Derjenige Dich¬ ter, den man den großen Heiden zu nennen Pflegt, der mehr- als irgend ein anderer auf den Namen eines Griechen Anspruch machen dürste, hat doch in seinem schönsten griechischen Gedicht, der Iphigenie, die Seele des Weibes mit den Augen angeschaut, die ihm das Christenthum geöffnet hat. Es ist eine völlig ungerechtfertigte Gutmüthigkeit, wenn wir dem böswilligen Vorgeben der sogenannten Rechtgläubigen, die uns vom Christenthum aus¬ schließen möchten, Folge geben. Wir sind keine Griechen, so viel wir auch den Griechen verdanken, sondern Deutsche und Christen, so wenig wir uns auch in der Lage befinden, alle Artikel des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses zu beschwören. Die Sorte, die Vilmar Christen nennt, wird freilich voraus¬ sichtlich das Schicksal haben, das ihr Vilmar prophezeit, sie wird sich in ein Zoar oder Pella flüchten d. h. in einen Conventikel oder in eine Sekte, und das Weltgericht wird mit ihr nichts zu thun haben; denn vor sein Forum gehören nur die Lebendigen und Existirenden. Vilmars Christenthum unterscheidet sich wesentlich von dem Hengstenber- gischen. Er sucht das Heil der Welt nicht in der Theologie, sondern im Prie- sterthum. „Die Geltung, welche die theologische Wissenschaft bisher in der Kirche gehabt hat als letzter Ausläufer der Lehrzeit, muß und wird nicht allein sinken, sondern gänzlich aufhören. In der Zukunft, der wir entgegengehen, ja in der Zeit, in die wir bereits eingetreten sind, gilt nur der Wille und die That, die Kraft der Seele, welche die Kraft des Gebetes ist und die Macht des Amtes, welches des Herrn ist. Von der alten rationalistischen oder ra¬ tionalisierenden Theologie kann schon jetzt nicht mehr die Rede sein; sie ist be¬ reits der Christenkinder Spott, Aber hüte man sich auch, selbst von der gläu¬ bigen Theologie Erfolge zu erwarten. Wer beten kann, wer auf das Amt vertraut und auf die Zukunft des Herrn Christi hofft, der hat Muth, vollen Muth, der hat Thatkraft, Zuversicht, Freudigkeit, — er hat einen unerme߬ lichen Wirkungskreis und eine überreiche Ernte von Erfolgen." „Damit wir aber nicht mißverstanden werden, so wollen wir ausdrücklich wiederholen, daß die gesammte Lehre der Kirche, wie sie vom heiligen Geist geleitet in den 1800 Jahren zum Erlebniß der Christenwelt geworden ist, in eines jeden Be¬ wußtsein und Ueberzeugung hell und klar stehen müsse, vom apostolischen Symbolum herab bis zur augsburger Confession, wenn die Zukunft uns ein neues Erlebniß gewähren, wenn die Zukunft uns als ihre Kinder anerkennen soll. Alle diese Lehren sind nicht dazu da, als Antiquitäten und Reliquien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/374>, abgerufen am 22.07.2024.