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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Pauls und Hegels gegen die Syntax und Grammatik im Allgemeinen erlau¬
ben, erscheinen uns gar nicht gewagt, wenn wir Carlyle damit vergleichen.
Den Uebersetzer beneiden wir nicht, der sich bemühn muß, die offenbaren
Jnconectheiten des Originals durch entsprechende Fehler unsrer eignen Sprache
wiederzugeben. In dieser Beziehung ist das neue Werk ebenso reich an Sün¬
den als die frühere Geschichte der französischen Revolution. Aber wir lassen
uns diesmal nicht darauf ein, da wir schon bei einer frühern Gelegenheit
unsere Mißbilligung so scharf als möglich ausgesprochen haben.

Wie eine so bedeutende, durch und durch wahre Natur zu dieser seltsamen
Verirrung kommt, ist leicht zu begreifen. Die Engländer und auch die Fran¬
zosen verdanken die Durchsichtigkeit ihres Stils wenigstens zum Theil einer
Einseitigkeit ihrer Bildung. Seit vielen Jahrhunderten an Parlamente und
an Geschworene, kurz an eine Redekunst gewöhnt, in welcher der Einzelne,
um die Menge zu überreden, sich ihren Voraussetzungen und Vorurtheilen an¬
bequemen muß, haben sie sich allmälig eine Redeweise angeeignet, die
nicht individuell hervorgegangen, sondern traditionell überliefert ist und die
nicht selten in das Uebermaß übergeht, welches die Engländer selbst als Carl
bezeichnen, eine Sprechweise, in welcher der Einzelne der überlieferten Sprache
überläßt, für sich zu denken. Bei kräftigen, ursprünglichen Naturen ist eine
heftige Abneigung gegen diese Trivialität des Denkens und Empfindens eben¬
so begreiflich, wie der Versuch, diesem Zwang der öffentlichen Meinung gegen¬
über recht originell und selbstständig zu denken, d. h. anders zu denken als
alle Welt denkt. Die beiden naheliegenden Abwege dieses Versuchs sind, daß
man entweder wirklich in eine verkehrte Logik verfällt, oder sich wenigstens
eine Manier des Stils aneignet, die das Gemeingefühl vor den Kopf stößt.
Das Letzte ist bei Carlyle der Fall, und man muß nicht selten alle Kunst¬
griffe der Philologie zu Hilfe nehmen, um hinter den wahren Kern seine
Meinung zu kommen, wobei man gewöhnlich entdeckt, daß er dasselbe vie
einfacher hätte ausdrücken können.

! In Carlyles Natur ist die Wahrheit zur Leidenschaft geworden, und der
Haß gegen die Lüge, gegen die Heuchelei, gegen den Phansäismus in allen
Formen ist der Leitton seiner Schriften. Es ist ihm ein inneres Bedürfniß,
alle die scheinbaren Motive aufzulösen, womit die Menschen sich selbst betrü¬
gen. Die natürliche Kunstform dieses Empfindens ist die Ironie, und man
kann nicht leugnen, daß er diese Ironie zuweilen blutig zu handhaben weiß.
Bekanntlich hat sich eine ganze Schule von Schriftstellern nach ihm gebildet,
worunter Thackeray, Kingsley, Currer Bell und Lewes die nam¬
haftesten sind. Sie haben auch in Deutschland um so mehr Anklang gefun¬
den, da sie sich von den grammatischen Jncorrecthciten ihres Vorbildes im
Ganzen stet gehalten haben. Geht man aber auf den Kern der Sache ein,


Pauls und Hegels gegen die Syntax und Grammatik im Allgemeinen erlau¬
ben, erscheinen uns gar nicht gewagt, wenn wir Carlyle damit vergleichen.
Den Uebersetzer beneiden wir nicht, der sich bemühn muß, die offenbaren
Jnconectheiten des Originals durch entsprechende Fehler unsrer eignen Sprache
wiederzugeben. In dieser Beziehung ist das neue Werk ebenso reich an Sün¬
den als die frühere Geschichte der französischen Revolution. Aber wir lassen
uns diesmal nicht darauf ein, da wir schon bei einer frühern Gelegenheit
unsere Mißbilligung so scharf als möglich ausgesprochen haben.

Wie eine so bedeutende, durch und durch wahre Natur zu dieser seltsamen
Verirrung kommt, ist leicht zu begreifen. Die Engländer und auch die Fran¬
zosen verdanken die Durchsichtigkeit ihres Stils wenigstens zum Theil einer
Einseitigkeit ihrer Bildung. Seit vielen Jahrhunderten an Parlamente und
an Geschworene, kurz an eine Redekunst gewöhnt, in welcher der Einzelne,
um die Menge zu überreden, sich ihren Voraussetzungen und Vorurtheilen an¬
bequemen muß, haben sie sich allmälig eine Redeweise angeeignet, die
nicht individuell hervorgegangen, sondern traditionell überliefert ist und die
nicht selten in das Uebermaß übergeht, welches die Engländer selbst als Carl
bezeichnen, eine Sprechweise, in welcher der Einzelne der überlieferten Sprache
überläßt, für sich zu denken. Bei kräftigen, ursprünglichen Naturen ist eine
heftige Abneigung gegen diese Trivialität des Denkens und Empfindens eben¬
so begreiflich, wie der Versuch, diesem Zwang der öffentlichen Meinung gegen¬
über recht originell und selbstständig zu denken, d. h. anders zu denken als
alle Welt denkt. Die beiden naheliegenden Abwege dieses Versuchs sind, daß
man entweder wirklich in eine verkehrte Logik verfällt, oder sich wenigstens
eine Manier des Stils aneignet, die das Gemeingefühl vor den Kopf stößt.
Das Letzte ist bei Carlyle der Fall, und man muß nicht selten alle Kunst¬
griffe der Philologie zu Hilfe nehmen, um hinter den wahren Kern seine
Meinung zu kommen, wobei man gewöhnlich entdeckt, daß er dasselbe vie
einfacher hätte ausdrücken können.

! In Carlyles Natur ist die Wahrheit zur Leidenschaft geworden, und der
Haß gegen die Lüge, gegen die Heuchelei, gegen den Phansäismus in allen
Formen ist der Leitton seiner Schriften. Es ist ihm ein inneres Bedürfniß,
alle die scheinbaren Motive aufzulösen, womit die Menschen sich selbst betrü¬
gen. Die natürliche Kunstform dieses Empfindens ist die Ironie, und man
kann nicht leugnen, daß er diese Ironie zuweilen blutig zu handhaben weiß.
Bekanntlich hat sich eine ganze Schule von Schriftstellern nach ihm gebildet,
worunter Thackeray, Kingsley, Currer Bell und Lewes die nam¬
haftesten sind. Sie haben auch in Deutschland um so mehr Anklang gefun¬
den, da sie sich von den grammatischen Jncorrecthciten ihres Vorbildes im
Ganzen stet gehalten haben. Geht man aber auf den Kern der Sache ein,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/298>, abgerufen am 26.07.2024.