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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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keine höhere Autorität schreibt ein einförmiges Giaubensgcsctz vor. Das Kir¬
chenamt gibt dem Geistlichen nicht den geheiligten Charakter eines Richters;
es gibt nur Laien, aber jeder derselben ist Priester. De Maistre nennt den
evangelischen Geistlichen un Nonsiour Irg.biUö on loir yui an. ach elioses
Koimötes. Er ist ein Gläubiger, der keine andern Vorrechte hat als die seiner
Glaubensbrüder, und schon die Einfachheit seiner Kleidung belehrt ihn, daß
er sich von den übrigen Christen nicht unterscheide. "Die Grundlage unserer
protestantischen Religion," schreibt Milton an das Parlament, "ist die. daß
wir keine andern göttlichen Vorschriften, keine andere äußere Autorität, keinen
andern gemeinsamen Boden kennen als die h. Schrift. Und da diese nicht
anders begriffen werden kann als durch die Erleuchtung, so ist niemand sicher,
sie für alle Zeiten zu besitzen, und noch weniger, daß sie in einem andern
immer vorhanden sei. Hieraus folgt, daß kein Mensch, daß keine Corpora¬
tion ein unfehlbarer Richter in Religionssachen sein und daß jeder nur sich
selbst eine Entscheidung geben kann. Wenn die. welche das Kirchenrcgiment
führen, keine Zwangsgewalt üben können, einfach deshalb, weil sie nicht un¬
fehlbar sind und dem Gewissen nichts aufnöthigen können, ohne es zu über¬
zeugen, so'hat die bürgerliche Obrigkeit, welche in solchen Fällen nicht ein¬
mal berechtigt ist, ein Urtheil auszusprechen, noch weniger Gewalt dazu." --
Es ist eine eigne Ironie, daß diese altprotestantischcn Wahrheiten von einem
Katholiken unsern Hypcr-Orthodoxen ins Gewissen gerufen werden müssen!

Mit einer gründlichen Kenntniß der deutschen Philosophie ausgerüstet,
versucht Ausonio Franchi den Supranaturalismus in allen seinen Schlupf¬
winkeln zu verfolgen. Indem er sich hauptsächlich auf die Kritik der reinen
Vernunft stützt, zeigt er, daß die Fragen, welche jede Religion zu lösen ver¬
sucht, aus der Natur des menschlichen Empfindens und Denkens hervorgehn,
daß aber ihre Anstrengung an den ^Grenzen des menschlichen Erkenntnißver-
mögens erlahmt. Der Mensch hat den angebornen Trieb nach dem Uebersinn¬
lichen. Er hat ebenso den angebornen Trieb, sich das, was er nicht weiß,
nach den Analogien dessen, was er weiß, zurechtzulegen. Jede Religion be¬
antwortet diese Fragen zunächst in der Weise der Vorstellung, der Mytho¬
logie, des Bildes, wenn sie aber in ihrer weitern Entwicklung als Theologie
die Form der Reflexion anwendet, verfällt sie regelmäßig in falsche Schlüsse.
Das menschliche Erkenntnißvermögen steckt in Antinomien, die es durch keine
Anstrengung los wird. Es ist ihm z. B. ebenso unmöglich, sich die Zeit als
begrenzt zu denken, wie sie als unbegrenzt zu denken. Indem nun die Theo¬
logie, zwischen diese beiden Gegensätze das Mittelglied der Schöpfung ein¬
schiebt, gelingt es ihr doch nicht, jene Widersprüche des Denkens zu lösen,
denn der willkürlich gesetzte Zeitabschnitt gibt der Frage nach dem, was vor
diesem Act gewesen, neuen Spielraum, und so ist es mit allen Dogmen der


keine höhere Autorität schreibt ein einförmiges Giaubensgcsctz vor. Das Kir¬
chenamt gibt dem Geistlichen nicht den geheiligten Charakter eines Richters;
es gibt nur Laien, aber jeder derselben ist Priester. De Maistre nennt den
evangelischen Geistlichen un Nonsiour Irg.biUö on loir yui an. ach elioses
Koimötes. Er ist ein Gläubiger, der keine andern Vorrechte hat als die seiner
Glaubensbrüder, und schon die Einfachheit seiner Kleidung belehrt ihn, daß
er sich von den übrigen Christen nicht unterscheide. „Die Grundlage unserer
protestantischen Religion," schreibt Milton an das Parlament, „ist die. daß
wir keine andern göttlichen Vorschriften, keine andere äußere Autorität, keinen
andern gemeinsamen Boden kennen als die h. Schrift. Und da diese nicht
anders begriffen werden kann als durch die Erleuchtung, so ist niemand sicher,
sie für alle Zeiten zu besitzen, und noch weniger, daß sie in einem andern
immer vorhanden sei. Hieraus folgt, daß kein Mensch, daß keine Corpora¬
tion ein unfehlbarer Richter in Religionssachen sein und daß jeder nur sich
selbst eine Entscheidung geben kann. Wenn die. welche das Kirchenrcgiment
führen, keine Zwangsgewalt üben können, einfach deshalb, weil sie nicht un¬
fehlbar sind und dem Gewissen nichts aufnöthigen können, ohne es zu über¬
zeugen, so'hat die bürgerliche Obrigkeit, welche in solchen Fällen nicht ein¬
mal berechtigt ist, ein Urtheil auszusprechen, noch weniger Gewalt dazu." —
Es ist eine eigne Ironie, daß diese altprotestantischcn Wahrheiten von einem
Katholiken unsern Hypcr-Orthodoxen ins Gewissen gerufen werden müssen!

Mit einer gründlichen Kenntniß der deutschen Philosophie ausgerüstet,
versucht Ausonio Franchi den Supranaturalismus in allen seinen Schlupf¬
winkeln zu verfolgen. Indem er sich hauptsächlich auf die Kritik der reinen
Vernunft stützt, zeigt er, daß die Fragen, welche jede Religion zu lösen ver¬
sucht, aus der Natur des menschlichen Empfindens und Denkens hervorgehn,
daß aber ihre Anstrengung an den ^Grenzen des menschlichen Erkenntnißver-
mögens erlahmt. Der Mensch hat den angebornen Trieb nach dem Uebersinn¬
lichen. Er hat ebenso den angebornen Trieb, sich das, was er nicht weiß,
nach den Analogien dessen, was er weiß, zurechtzulegen. Jede Religion be¬
antwortet diese Fragen zunächst in der Weise der Vorstellung, der Mytho¬
logie, des Bildes, wenn sie aber in ihrer weitern Entwicklung als Theologie
die Form der Reflexion anwendet, verfällt sie regelmäßig in falsche Schlüsse.
Das menschliche Erkenntnißvermögen steckt in Antinomien, die es durch keine
Anstrengung los wird. Es ist ihm z. B. ebenso unmöglich, sich die Zeit als
begrenzt zu denken, wie sie als unbegrenzt zu denken. Indem nun die Theo¬
logie, zwischen diese beiden Gegensätze das Mittelglied der Schöpfung ein¬
schiebt, gelingt es ihr doch nicht, jene Widersprüche des Denkens zu lösen,
denn der willkürlich gesetzte Zeitabschnitt gibt der Frage nach dem, was vor
diesem Act gewesen, neuen Spielraum, und so ist es mit allen Dogmen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/294>, abgerufen am 01.07.2024.