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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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reich hat zwar der Staat mit der Kirche ein enges Bündniß geschlossen, aber
es bleibt doch immer das Vaterland der gallicanischen Versuche gegen die Ober¬
herrschaft des Papstes, es bleibt das Vaterland der Aufklärung. In Belgien
hat sich der Liberalismus dem Ultramontanismus gegenüber zu einer geschlos¬
senen Partei abgerundet, die den Gegner aus parlamentarischem Boden be¬
kämpft. Sardinien endlich hat seine Stütze gegen Oestreich und gegen die
klerikale Partei hauptsächlich im politischen und religiösen Liberalismus zu
suchen. In allen diesen Ländern fehlt es nicht an talentvollen Schriftstellern,
die gute Sache durch Logik und Beredtsamkeit zu vertreten. Es gereicht uns
aber zur besondern Genugthuung, daß sie, ihre Waffen hauptsächlich der
deutschen Philosophie entlehnen. In den Schriften, die wir heute zu bespre¬
chen haben, erkennen wir fast auf jeder Seite Kant und Schleiermacher, He¬
gel und Feuerbach heraus."

Daß Proudhon, der niemals im Stande ist, einem Witz oder einer
rhetorischen Phrase Widerstand zu leisten, bei dem die Dialektik fast jedesmal
in Dithyramben übergeht, und der das unglückliche Talent besitzt, für seine
Invectiven die beschimpfendste Form zu finden, in allen seinen Schriften durch
'einzelne Wendungen der öffentlichen Meinung wie dem Gesetz den gerechte¬
sten Anstoß gibt, ist allgemein bekannt, und wir wundern uns nicht, daß
auch das gegenwärtige Buch von einem pariser Gerichtshof verurtheilt ist.
Aber die Extravaganz liegt bei ihm fast immer nur in den Beweisgründen;
das, was er verlangt, ist gar nicht so übertrieben, als man nach dem ersten
Anschein vermuthen sollte. Wir lassen uns diesmal auf die Schale gar nicht
ein, wir halten uns an den Kern seiner Ideen.

Die Verfassung, mit welcher der Kaiser Frankreich beglückt hat, verspricht
in der Einleitung die Principien von 1789 durchzuführen. Auf diese Ein¬
leitung stützt Proudhon seine Ansprüche. Er weist nach, und er wird darin
im Ganzen nur wenig Widerspruch finden, daß die sittliche Weltanschauung
von 1789 der Dogmatik und den Institutionen der Kirche in vielen Punkten
aus das entschiedenste widerspricht, und errichtet demnach an den Senat, dem
die Verfassung wenigstens theilweise die Initiative in den organischen Ein¬
richtungen überträgt, die Bittschrift, den Widerspruch zwischen diesen beiden
Weltanschauungen durch Reform des Concordats aufzuheben. Daß seine Bitt¬
schrift an diesem Ort Anklang finden würde, hat er wol selber nicht geglaubt;
die schneidende Form, in der er seine Ansprüche vorträgt, war auch nicht
dazu geeignet: es kam ihm lediglich darauf an, die öffentliche Meinung zu
bearbeiten. Wir lassen seine Motive, in denen er meist über das Ziel hin¬
ausschießt, bei Seite, und prüfen nur den Inhalt der Anträge, durch welche
er das Mißverhältnis) zwischen Staat und Kirche auszugleichen sucht. Er hat
sie in neun Paragraphen formulirt, die sowol durch ihre handgreiflichen Irr-


reich hat zwar der Staat mit der Kirche ein enges Bündniß geschlossen, aber
es bleibt doch immer das Vaterland der gallicanischen Versuche gegen die Ober¬
herrschaft des Papstes, es bleibt das Vaterland der Aufklärung. In Belgien
hat sich der Liberalismus dem Ultramontanismus gegenüber zu einer geschlos¬
senen Partei abgerundet, die den Gegner aus parlamentarischem Boden be¬
kämpft. Sardinien endlich hat seine Stütze gegen Oestreich und gegen die
klerikale Partei hauptsächlich im politischen und religiösen Liberalismus zu
suchen. In allen diesen Ländern fehlt es nicht an talentvollen Schriftstellern,
die gute Sache durch Logik und Beredtsamkeit zu vertreten. Es gereicht uns
aber zur besondern Genugthuung, daß sie, ihre Waffen hauptsächlich der
deutschen Philosophie entlehnen. In den Schriften, die wir heute zu bespre¬
chen haben, erkennen wir fast auf jeder Seite Kant und Schleiermacher, He¬
gel und Feuerbach heraus."

Daß Proudhon, der niemals im Stande ist, einem Witz oder einer
rhetorischen Phrase Widerstand zu leisten, bei dem die Dialektik fast jedesmal
in Dithyramben übergeht, und der das unglückliche Talent besitzt, für seine
Invectiven die beschimpfendste Form zu finden, in allen seinen Schriften durch
'einzelne Wendungen der öffentlichen Meinung wie dem Gesetz den gerechte¬
sten Anstoß gibt, ist allgemein bekannt, und wir wundern uns nicht, daß
auch das gegenwärtige Buch von einem pariser Gerichtshof verurtheilt ist.
Aber die Extravaganz liegt bei ihm fast immer nur in den Beweisgründen;
das, was er verlangt, ist gar nicht so übertrieben, als man nach dem ersten
Anschein vermuthen sollte. Wir lassen uns diesmal auf die Schale gar nicht
ein, wir halten uns an den Kern seiner Ideen.

Die Verfassung, mit welcher der Kaiser Frankreich beglückt hat, verspricht
in der Einleitung die Principien von 1789 durchzuführen. Auf diese Ein¬
leitung stützt Proudhon seine Ansprüche. Er weist nach, und er wird darin
im Ganzen nur wenig Widerspruch finden, daß die sittliche Weltanschauung
von 1789 der Dogmatik und den Institutionen der Kirche in vielen Punkten
aus das entschiedenste widerspricht, und errichtet demnach an den Senat, dem
die Verfassung wenigstens theilweise die Initiative in den organischen Ein¬
richtungen überträgt, die Bittschrift, den Widerspruch zwischen diesen beiden
Weltanschauungen durch Reform des Concordats aufzuheben. Daß seine Bitt¬
schrift an diesem Ort Anklang finden würde, hat er wol selber nicht geglaubt;
die schneidende Form, in der er seine Ansprüche vorträgt, war auch nicht
dazu geeignet: es kam ihm lediglich darauf an, die öffentliche Meinung zu
bearbeiten. Wir lassen seine Motive, in denen er meist über das Ziel hin¬
ausschießt, bei Seite, und prüfen nur den Inhalt der Anträge, durch welche
er das Mißverhältnis) zwischen Staat und Kirche auszugleichen sucht. Er hat
sie in neun Paragraphen formulirt, die sowol durch ihre handgreiflichen Irr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/290>, abgerufen am 26.06.2024.