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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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gen früher welcher Partei immer angehört haben, und sie mögen für die Zu¬
kunft eine rein nationale oder mehr kosmopolitische Entwicklung für ihr Vater¬
land anstreben.

Wir können also mit kaltem Blut, mit der Ruhe und Unbefangenheit
der historischen Beobachtung auf die Entwicklung der politischen Zustände in
Oestreich und Ungarn während der letzten zehn Jahre zurückblicken und uns
die Aufgabe stellen, zu untersuchen, was das schöne Land zwischen den Karpa¬
then, was der große Kaiserstaat, mit dem dieses Land infolge der jüngsten
Ereignisse näher verbunden wurde, seit zehn Jahren gewonnen oder verloren
haben.

Ungarn war vor 1848 eine Monarchie, welche durch eine aristokratische
conservative Verfassung beschränkt wurde. Dem König gehörte die Ausübung
der Gesetze mit allen sonstigen Attributen der Souveränetät, wie: das Ober-
commando des Heeres, die Ernennung der hohen Würdenträger und Staats¬
beamten, -- von einem eigentlichen Ministerium wußte die zu Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts entstandene Verfassung so wenig als die um sieben
Jahre ältere "ünartg. maMli. der Engländer -- das Begnadigungsrecht, das
Recht der Adels- und Ordensverleihungen ze. Hierzu kam noch ein der Legis¬
latur gegenüber unbeschränktes Veto und das Recht den Reichstag zu schlie¬
ßen und neue Wahlen anzuordnen. Das Volk besaß diesem gegenüber: die
durch ein unbeschranktes Veto sehr beschränkte legislative Macht, welche es
in zwei Kammern ausübte und das Recht der municipalen Selbstregierung,
deren Schauplatz die einzelnen Comitate und freien Städte waren.

Schon nach diesen Hauptumrissen zu urtheilen war die ungarische Con-
stitution eine sehr beneidenswerthe Errungenschaft vergangener Jahrhunderte,
und der englischen nicht ganz, unähnlich. Daß sie im Laufe der Zeit nicht
das leistete und leisten konnte, was die maMÄ Lin^re^ dem Volke Albions,
ist nicht blos der Verschiedenheit der geographischen Lage und der Abstam¬
mung der beiden Völker, sondern auch und vorzüglich zweien Umständen zu¬
zuschreiben, welche als die wunden Punkte des altungarischen Staatslebens
betrachtet werden müssen.'

Das ungarische Volk, welches dem Monarchen gegenüber den zweiten
Factor in der Staatsmaschine bilden sollte, machte nur ungefähr den siebzehn¬
ten Theil der ganzen Bevölkerung des Landes aus. Ungarn mit den an
seiner Verfassung Theil nehmenden Nebenländern zählte beim Ausbruch der letz¬
ten Revolution an fünfzehn Millionen Einwohner, worunter neunmalhunderr-
tausend Adelige; und die letzteren genossen eigentliche politische Rechte, bildeten den
"xorMu8" der Konstitution, während die übrigen vierzehn Millionen theils nur
in den Communen einige bürgerliche Rechte ausüben dursten, theils aber blos
als Herrenfutter -- "misera, xleds eontribuens" nennt sie das Lorxus M'is "


gen früher welcher Partei immer angehört haben, und sie mögen für die Zu¬
kunft eine rein nationale oder mehr kosmopolitische Entwicklung für ihr Vater¬
land anstreben.

Wir können also mit kaltem Blut, mit der Ruhe und Unbefangenheit
der historischen Beobachtung auf die Entwicklung der politischen Zustände in
Oestreich und Ungarn während der letzten zehn Jahre zurückblicken und uns
die Aufgabe stellen, zu untersuchen, was das schöne Land zwischen den Karpa¬
then, was der große Kaiserstaat, mit dem dieses Land infolge der jüngsten
Ereignisse näher verbunden wurde, seit zehn Jahren gewonnen oder verloren
haben.

Ungarn war vor 1848 eine Monarchie, welche durch eine aristokratische
conservative Verfassung beschränkt wurde. Dem König gehörte die Ausübung
der Gesetze mit allen sonstigen Attributen der Souveränetät, wie: das Ober-
commando des Heeres, die Ernennung der hohen Würdenträger und Staats¬
beamten, — von einem eigentlichen Ministerium wußte die zu Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts entstandene Verfassung so wenig als die um sieben
Jahre ältere «ünartg. maMli. der Engländer — das Begnadigungsrecht, das
Recht der Adels- und Ordensverleihungen ze. Hierzu kam noch ein der Legis¬
latur gegenüber unbeschränktes Veto und das Recht den Reichstag zu schlie¬
ßen und neue Wahlen anzuordnen. Das Volk besaß diesem gegenüber: die
durch ein unbeschranktes Veto sehr beschränkte legislative Macht, welche es
in zwei Kammern ausübte und das Recht der municipalen Selbstregierung,
deren Schauplatz die einzelnen Comitate und freien Städte waren.

Schon nach diesen Hauptumrissen zu urtheilen war die ungarische Con-
stitution eine sehr beneidenswerthe Errungenschaft vergangener Jahrhunderte,
und der englischen nicht ganz, unähnlich. Daß sie im Laufe der Zeit nicht
das leistete und leisten konnte, was die maMÄ Lin^re^ dem Volke Albions,
ist nicht blos der Verschiedenheit der geographischen Lage und der Abstam¬
mung der beiden Völker, sondern auch und vorzüglich zweien Umständen zu¬
zuschreiben, welche als die wunden Punkte des altungarischen Staatslebens
betrachtet werden müssen.'

Das ungarische Volk, welches dem Monarchen gegenüber den zweiten
Factor in der Staatsmaschine bilden sollte, machte nur ungefähr den siebzehn¬
ten Theil der ganzen Bevölkerung des Landes aus. Ungarn mit den an
seiner Verfassung Theil nehmenden Nebenländern zählte beim Ausbruch der letz¬
ten Revolution an fünfzehn Millionen Einwohner, worunter neunmalhunderr-
tausend Adelige; und die letzteren genossen eigentliche politische Rechte, bildeten den
„xorMu8" der Konstitution, während die übrigen vierzehn Millionen theils nur
in den Communen einige bürgerliche Rechte ausüben dursten, theils aber blos
als Herrenfutter — „misera, xleds eontribuens" nennt sie das Lorxus M'is "


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/250>, abgerufen am 22.07.2024.