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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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gewußt, indem sie die gerade Linie der Mauern mannigfach unterbricht, das
Gebäude in Kreuzesform aufführt, kleinere und größere Thürme an seinen
Seiten hervortreten laßt, und so dem Ganzen einen verschiedenartigen, pitto¬
resken Anblick gibt.. Diente die älteste gothische Baukunst mehr nur dem
Zweck der Festigkeit, ohne auf die Schönheit der Form sehr zu achten, so
hat die sogenannte neugothische Architektur, etwa seit dem Beginn des
11. Jahrhunderts, das Gigantische mit dem Schönen wohl vereinigt. Ob
und inwieweit dieselbe manches aus der maurischen und arabischen Bauart
angenommen, oder selbst aus ihr, wie behauptet wird, hervorgegangen, diese
Frage, lassen wir hier auf sich beruhen. Aehnlich wie der Grieche im korinthi¬
schen Stil, suchten anch die Araber, aber mit ganz andern Mitteln, die Schwere
vergessen zu machen, indem sie in hohen Bogen die Last gleichsam der An¬
schauung entrückten und die durchbrochnen Wände mit Blumen umflochten.
Dies Durchbrechen der Steinmauern, zumal an vorgebauten Thürmen, daß
sie klar und durchsichtig erscheinen, ist eben auch dem neugothischen Stil eigen,
wie überhaupt das Erstreben der Leichtigkeit. Durch die vielen Spitzen, kleinen
Thürme, durchbrochenen Wände und vorspringenden Verzierungen von außen,
durch den kühnen Aufschwung schlanker, scheinbar zum Tragen ganz unfähiger
Säulen im Innern, durch den hohen Flug himmelanstrebender Thurmbauten,
wird das Ganze gleichsam emporgehoben, und diese Richtung nach auswärts
hebt die zum Grunde gewandte Schwere anscheinend auf. Und doch liegt in
den Spitzgewölben und in der massenhaften Anlage des Ganzen wiederum
so sehr der Ausdruck der Festigkeit und Sicherheit, daß zwei* widersprechende
Eigenschaften hier kunstvoll , ausgesöhnt sind. Dem gothischen Stil ist diejenige
Symmetrie nicht eigen, die wir im griechischen bewundern, und doch wird
niemand ihm Regellosigkeit vorwerfen. Auch in der Landschaft, wenn sie unser
Auge entzückt, herrscht Symmetrie, aber nicht nach den genan gemessenen
Linien griechischer Kunst. Ohne Wage und ohne Mcßschnur dehnt die Natur
ihre Flächen aus und häuft sie ihre Massen, läßt sie ihre Ströme rauschen
und ihre Meere wogen und doch passen ihre Theile zusammen und ordnen
sie sich zu einem die Seele erhebenden Ganzen, so daß wir dem alten, bibli¬
schen Naturfreund nachfühlen, wenn er prophetisch begeistert ausruft, Gott
habe das Wasser mit seiner Hand gemessen, mit der Spanne die Himmel
geordnet und nach Gewicht und Maß den Erdenstaub geschüttet, die Hügel
und Berge vertheilt. Gewissermaßen jenem großen Beispiel nacheifernd und
die Symmetrie der Kunst und Natur vermittelnd, verschmäht auch der gothische
Bau die gleichen Höhen und Weiten, ohne aber doch im Großen und Ganzen
dem symmetrischen Gesetz und Bedürfniß sich zu entziehn, das wir in uns
tragen.

Gehen wir ins Alterthum zurück, so kam die volle massive Mauer in der


Grenzboten IV. 1358. 28

gewußt, indem sie die gerade Linie der Mauern mannigfach unterbricht, das
Gebäude in Kreuzesform aufführt, kleinere und größere Thürme an seinen
Seiten hervortreten laßt, und so dem Ganzen einen verschiedenartigen, pitto¬
resken Anblick gibt.. Diente die älteste gothische Baukunst mehr nur dem
Zweck der Festigkeit, ohne auf die Schönheit der Form sehr zu achten, so
hat die sogenannte neugothische Architektur, etwa seit dem Beginn des
11. Jahrhunderts, das Gigantische mit dem Schönen wohl vereinigt. Ob
und inwieweit dieselbe manches aus der maurischen und arabischen Bauart
angenommen, oder selbst aus ihr, wie behauptet wird, hervorgegangen, diese
Frage, lassen wir hier auf sich beruhen. Aehnlich wie der Grieche im korinthi¬
schen Stil, suchten anch die Araber, aber mit ganz andern Mitteln, die Schwere
vergessen zu machen, indem sie in hohen Bogen die Last gleichsam der An¬
schauung entrückten und die durchbrochnen Wände mit Blumen umflochten.
Dies Durchbrechen der Steinmauern, zumal an vorgebauten Thürmen, daß
sie klar und durchsichtig erscheinen, ist eben auch dem neugothischen Stil eigen,
wie überhaupt das Erstreben der Leichtigkeit. Durch die vielen Spitzen, kleinen
Thürme, durchbrochenen Wände und vorspringenden Verzierungen von außen,
durch den kühnen Aufschwung schlanker, scheinbar zum Tragen ganz unfähiger
Säulen im Innern, durch den hohen Flug himmelanstrebender Thurmbauten,
wird das Ganze gleichsam emporgehoben, und diese Richtung nach auswärts
hebt die zum Grunde gewandte Schwere anscheinend auf. Und doch liegt in
den Spitzgewölben und in der massenhaften Anlage des Ganzen wiederum
so sehr der Ausdruck der Festigkeit und Sicherheit, daß zwei* widersprechende
Eigenschaften hier kunstvoll , ausgesöhnt sind. Dem gothischen Stil ist diejenige
Symmetrie nicht eigen, die wir im griechischen bewundern, und doch wird
niemand ihm Regellosigkeit vorwerfen. Auch in der Landschaft, wenn sie unser
Auge entzückt, herrscht Symmetrie, aber nicht nach den genan gemessenen
Linien griechischer Kunst. Ohne Wage und ohne Mcßschnur dehnt die Natur
ihre Flächen aus und häuft sie ihre Massen, läßt sie ihre Ströme rauschen
und ihre Meere wogen und doch passen ihre Theile zusammen und ordnen
sie sich zu einem die Seele erhebenden Ganzen, so daß wir dem alten, bibli¬
schen Naturfreund nachfühlen, wenn er prophetisch begeistert ausruft, Gott
habe das Wasser mit seiner Hand gemessen, mit der Spanne die Himmel
geordnet und nach Gewicht und Maß den Erdenstaub geschüttet, die Hügel
und Berge vertheilt. Gewissermaßen jenem großen Beispiel nacheifernd und
die Symmetrie der Kunst und Natur vermittelnd, verschmäht auch der gothische
Bau die gleichen Höhen und Weiten, ohne aber doch im Großen und Ganzen
dem symmetrischen Gesetz und Bedürfniß sich zu entziehn, das wir in uns
tragen.

Gehen wir ins Alterthum zurück, so kam die volle massive Mauer in der


Grenzboten IV. 1358. 28
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[0225] gewußt, indem sie die gerade Linie der Mauern mannigfach unterbricht, das Gebäude in Kreuzesform aufführt, kleinere und größere Thürme an seinen Seiten hervortreten laßt, und so dem Ganzen einen verschiedenartigen, pitto¬ resken Anblick gibt.. Diente die älteste gothische Baukunst mehr nur dem Zweck der Festigkeit, ohne auf die Schönheit der Form sehr zu achten, so hat die sogenannte neugothische Architektur, etwa seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts, das Gigantische mit dem Schönen wohl vereinigt. Ob und inwieweit dieselbe manches aus der maurischen und arabischen Bauart angenommen, oder selbst aus ihr, wie behauptet wird, hervorgegangen, diese Frage, lassen wir hier auf sich beruhen. Aehnlich wie der Grieche im korinthi¬ schen Stil, suchten anch die Araber, aber mit ganz andern Mitteln, die Schwere vergessen zu machen, indem sie in hohen Bogen die Last gleichsam der An¬ schauung entrückten und die durchbrochnen Wände mit Blumen umflochten. Dies Durchbrechen der Steinmauern, zumal an vorgebauten Thürmen, daß sie klar und durchsichtig erscheinen, ist eben auch dem neugothischen Stil eigen, wie überhaupt das Erstreben der Leichtigkeit. Durch die vielen Spitzen, kleinen Thürme, durchbrochenen Wände und vorspringenden Verzierungen von außen, durch den kühnen Aufschwung schlanker, scheinbar zum Tragen ganz unfähiger Säulen im Innern, durch den hohen Flug himmelanstrebender Thurmbauten, wird das Ganze gleichsam emporgehoben, und diese Richtung nach auswärts hebt die zum Grunde gewandte Schwere anscheinend auf. Und doch liegt in den Spitzgewölben und in der massenhaften Anlage des Ganzen wiederum so sehr der Ausdruck der Festigkeit und Sicherheit, daß zwei* widersprechende Eigenschaften hier kunstvoll , ausgesöhnt sind. Dem gothischen Stil ist diejenige Symmetrie nicht eigen, die wir im griechischen bewundern, und doch wird niemand ihm Regellosigkeit vorwerfen. Auch in der Landschaft, wenn sie unser Auge entzückt, herrscht Symmetrie, aber nicht nach den genan gemessenen Linien griechischer Kunst. Ohne Wage und ohne Mcßschnur dehnt die Natur ihre Flächen aus und häuft sie ihre Massen, läßt sie ihre Ströme rauschen und ihre Meere wogen und doch passen ihre Theile zusammen und ordnen sie sich zu einem die Seele erhebenden Ganzen, so daß wir dem alten, bibli¬ schen Naturfreund nachfühlen, wenn er prophetisch begeistert ausruft, Gott habe das Wasser mit seiner Hand gemessen, mit der Spanne die Himmel geordnet und nach Gewicht und Maß den Erdenstaub geschüttet, die Hügel und Berge vertheilt. Gewissermaßen jenem großen Beispiel nacheifernd und die Symmetrie der Kunst und Natur vermittelnd, verschmäht auch der gothische Bau die gleichen Höhen und Weiten, ohne aber doch im Großen und Ganzen dem symmetrischen Gesetz und Bedürfniß sich zu entziehn, das wir in uns tragen. Gehen wir ins Alterthum zurück, so kam die volle massive Mauer in der Grenzboten IV. 1358. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/225>, abgerufen am 03.07.2024.