Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

genz, und wenn er ernsthaft nachdachte, war sein Gemüth gelähmt. Die
Vorschnelligkeit seiner Empfindung trübte auch im Einzelnen sein Gesicht und
so kamen denn seine Gedanken, seine Bilder, seine Stimmungen wie Inspi¬
rationen über ihn, die er schnell aufzeichnete und die ihn infolge dessen be¬
herrschten. Was er Composition nannte, bestand darin, daß er sich bemühte,
diese einzelnen Auszeichnungen aneinander zu schweißen. Daraus geht aber
nie ein Ganzes hervor. Wir finden fast alle Momente bei ihm zusammen,
die zur Charakteristik eines Menschen oder einer Begebenheit gehören; aber
es sind SiyjvLti mvmKiÄ xuet-w, der elektrische Funke fehlt, der ihnen
Leben einhaucht, fast nie gelang es ihm, den innern Kern eines Charakters
schnell zu fassen, und aus ihm heraus alles einzelne zu begreifen, er sieht
ihn wol, aber nicht in dem Augenblick, wo es darauf ankäme, sondern
beiläufig. Daher der Aufwand von Farben, die nicht immer zueinander
stimmen und die in ihrer Mannigfaltigkeit mehr verwirren als deutlich machen.
Daher seine Mystik, die unfähig, das Gesetz des Wesens zu ergründen, im
sinnlosen Spiel des Zufalls ein geheimes Gesetz sucht und sich in dunkle Weis¬
sagungen flüchtet, weil sie in ihrer Einsicht sich selbst nicht genügt.

In seinen Borzügen wie in seinen Schwächen ist Müller eine höchst inter¬
essante Erscheinung, die wol eine gründliche und zusammenhängende Darstel¬
lung verdient. Noch bedeutender aber wird sein Leben dadurch, daß sich alle
große Stimmungen der Zeit in ihm auf das Mannigfaltigste kreuzen, viel¬
leicht mehr als bei irgend einem der großen Schriftsteller der Periode, weil
er der vielseitigste und beweglichste war. In den 40 Bänden seiner Schriften,
wenn man die (i Supplementbande und andern Briefsammlungen z. B. die
Gentzschcn dazu nimmt, findet man das hinreichendste Material; möchte dieser
Aussatz die Cotta'sche Buchhandlung veranlassen, eine neue chronologisch
geordnete Ausgabe zu veranstalten, um die tollen Fehler der beiden frühern
wenigstens einigermaßen auszulöschen.

Johannes Müller wurde am 3. Jan. 1752 zu Schaffhausen geboren.
Seine Vorfahren gehörten seit vielen Geschlechtern zum Beamtenstand des
Cantons, sein Bater war der erste, der zur Theologie überging/ er war Dia¬
konus und Conrector zu Schaffhausen. Der herzliche liebevolle Ton in der
Familie erfreut uns in den Briefen um so mehr, je häufiger wir in dem
Leben unsrer großen Schriftsteller ungeregelten Familienverhältnissen begegnen.
In allen Wechselfüllen seines Lebens bewahrte Müller seine treue Gesinnung für
das väterliche Hnu6, er war ein guter Sohn und Bruder, und die feste An¬
hänglichkeit feines Gemüths macht viele Schwächen gut.

Noch ehe erlesen konnte, wußte er die Hauptbegebenheiten der Schweizer--
geschichte. Sein Großvater mütterlicher Seite, I v h a n n c s sah o op, seit > 751
Pastor zu Schaffhausen, war auf seine Art ein Gelehrter: jeden freien Augen-


genz, und wenn er ernsthaft nachdachte, war sein Gemüth gelähmt. Die
Vorschnelligkeit seiner Empfindung trübte auch im Einzelnen sein Gesicht und
so kamen denn seine Gedanken, seine Bilder, seine Stimmungen wie Inspi¬
rationen über ihn, die er schnell aufzeichnete und die ihn infolge dessen be¬
herrschten. Was er Composition nannte, bestand darin, daß er sich bemühte,
diese einzelnen Auszeichnungen aneinander zu schweißen. Daraus geht aber
nie ein Ganzes hervor. Wir finden fast alle Momente bei ihm zusammen,
die zur Charakteristik eines Menschen oder einer Begebenheit gehören; aber
es sind SiyjvLti mvmKiÄ xuet-w, der elektrische Funke fehlt, der ihnen
Leben einhaucht, fast nie gelang es ihm, den innern Kern eines Charakters
schnell zu fassen, und aus ihm heraus alles einzelne zu begreifen, er sieht
ihn wol, aber nicht in dem Augenblick, wo es darauf ankäme, sondern
beiläufig. Daher der Aufwand von Farben, die nicht immer zueinander
stimmen und die in ihrer Mannigfaltigkeit mehr verwirren als deutlich machen.
Daher seine Mystik, die unfähig, das Gesetz des Wesens zu ergründen, im
sinnlosen Spiel des Zufalls ein geheimes Gesetz sucht und sich in dunkle Weis¬
sagungen flüchtet, weil sie in ihrer Einsicht sich selbst nicht genügt.

In seinen Borzügen wie in seinen Schwächen ist Müller eine höchst inter¬
essante Erscheinung, die wol eine gründliche und zusammenhängende Darstel¬
lung verdient. Noch bedeutender aber wird sein Leben dadurch, daß sich alle
große Stimmungen der Zeit in ihm auf das Mannigfaltigste kreuzen, viel¬
leicht mehr als bei irgend einem der großen Schriftsteller der Periode, weil
er der vielseitigste und beweglichste war. In den 40 Bänden seiner Schriften,
wenn man die (i Supplementbande und andern Briefsammlungen z. B. die
Gentzschcn dazu nimmt, findet man das hinreichendste Material; möchte dieser
Aussatz die Cotta'sche Buchhandlung veranlassen, eine neue chronologisch
geordnete Ausgabe zu veranstalten, um die tollen Fehler der beiden frühern
wenigstens einigermaßen auszulöschen.

Johannes Müller wurde am 3. Jan. 1752 zu Schaffhausen geboren.
Seine Vorfahren gehörten seit vielen Geschlechtern zum Beamtenstand des
Cantons, sein Bater war der erste, der zur Theologie überging/ er war Dia¬
konus und Conrector zu Schaffhausen. Der herzliche liebevolle Ton in der
Familie erfreut uns in den Briefen um so mehr, je häufiger wir in dem
Leben unsrer großen Schriftsteller ungeregelten Familienverhältnissen begegnen.
In allen Wechselfüllen seines Lebens bewahrte Müller seine treue Gesinnung für
das väterliche Hnu6, er war ein guter Sohn und Bruder, und die feste An¬
hänglichkeit feines Gemüths macht viele Schwächen gut.

Noch ehe erlesen konnte, wußte er die Hauptbegebenheiten der Schweizer--
geschichte. Sein Großvater mütterlicher Seite, I v h a n n c s sah o op, seit > 751
Pastor zu Schaffhausen, war auf seine Art ein Gelehrter: jeden freien Augen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186467"/>
            <p xml:id="ID_134" prev="#ID_133"> genz, und wenn er ernsthaft nachdachte, war sein Gemüth gelähmt. Die<lb/>
Vorschnelligkeit seiner Empfindung trübte auch im Einzelnen sein Gesicht und<lb/>
so kamen denn seine Gedanken, seine Bilder, seine Stimmungen wie Inspi¬<lb/>
rationen über ihn, die er schnell aufzeichnete und die ihn infolge dessen be¬<lb/>
herrschten. Was er Composition nannte, bestand darin, daß er sich bemühte,<lb/>
diese einzelnen Auszeichnungen aneinander zu schweißen. Daraus geht aber<lb/>
nie ein Ganzes hervor. Wir finden fast alle Momente bei ihm zusammen,<lb/>
die zur Charakteristik eines Menschen oder einer Begebenheit gehören; aber<lb/>
es sind SiyjvLti mvmKiÄ xuet-w, der elektrische Funke fehlt, der ihnen<lb/>
Leben einhaucht, fast nie gelang es ihm, den innern Kern eines Charakters<lb/>
schnell zu fassen, und aus ihm heraus alles einzelne zu begreifen, er sieht<lb/>
ihn wol, aber nicht in dem Augenblick, wo es darauf ankäme, sondern<lb/>
beiläufig. Daher der Aufwand von Farben, die nicht immer zueinander<lb/>
stimmen und die in ihrer Mannigfaltigkeit mehr verwirren als deutlich machen.<lb/>
Daher seine Mystik, die unfähig, das Gesetz des Wesens zu ergründen, im<lb/>
sinnlosen Spiel des Zufalls ein geheimes Gesetz sucht und sich in dunkle Weis¬<lb/>
sagungen flüchtet, weil sie in ihrer Einsicht sich selbst nicht genügt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_135"> In seinen Borzügen wie in seinen Schwächen ist Müller eine höchst inter¬<lb/>
essante Erscheinung, die wol eine gründliche und zusammenhängende Darstel¬<lb/>
lung verdient. Noch bedeutender aber wird sein Leben dadurch, daß sich alle<lb/>
große Stimmungen der Zeit in ihm auf das Mannigfaltigste kreuzen, viel¬<lb/>
leicht mehr als bei irgend einem der großen Schriftsteller der Periode, weil<lb/>
er der vielseitigste und beweglichste war. In den 40 Bänden seiner Schriften,<lb/>
wenn man die (i Supplementbande und andern Briefsammlungen z. B. die<lb/>
Gentzschcn dazu nimmt, findet man das hinreichendste Material; möchte dieser<lb/>
Aussatz die Cotta'sche Buchhandlung veranlassen, eine neue chronologisch<lb/>
geordnete Ausgabe zu veranstalten, um die tollen Fehler der beiden frühern<lb/>
wenigstens einigermaßen auszulöschen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_136"> Johannes Müller wurde am 3. Jan. 1752 zu Schaffhausen geboren.<lb/>
Seine Vorfahren gehörten seit vielen Geschlechtern zum Beamtenstand des<lb/>
Cantons, sein Bater war der erste, der zur Theologie überging/ er war Dia¬<lb/>
konus und Conrector zu Schaffhausen. Der herzliche liebevolle Ton in der<lb/>
Familie erfreut uns in den Briefen um so mehr, je häufiger wir in dem<lb/>
Leben unsrer großen Schriftsteller ungeregelten Familienverhältnissen begegnen.<lb/>
In allen Wechselfüllen seines Lebens bewahrte Müller seine treue Gesinnung für<lb/>
das väterliche Hnu6, er war ein guter Sohn und Bruder, und die feste An¬<lb/>
hänglichkeit feines Gemüths macht viele Schwächen gut.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_137" next="#ID_138"> Noch ehe erlesen konnte, wußte er die Hauptbegebenheiten der Schweizer--<lb/>
geschichte. Sein Großvater mütterlicher Seite, I v h a n n c s sah o op, seit &gt; 751<lb/>
Pastor zu Schaffhausen, war auf seine Art ein Gelehrter: jeden freien Augen-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0055] genz, und wenn er ernsthaft nachdachte, war sein Gemüth gelähmt. Die Vorschnelligkeit seiner Empfindung trübte auch im Einzelnen sein Gesicht und so kamen denn seine Gedanken, seine Bilder, seine Stimmungen wie Inspi¬ rationen über ihn, die er schnell aufzeichnete und die ihn infolge dessen be¬ herrschten. Was er Composition nannte, bestand darin, daß er sich bemühte, diese einzelnen Auszeichnungen aneinander zu schweißen. Daraus geht aber nie ein Ganzes hervor. Wir finden fast alle Momente bei ihm zusammen, die zur Charakteristik eines Menschen oder einer Begebenheit gehören; aber es sind SiyjvLti mvmKiÄ xuet-w, der elektrische Funke fehlt, der ihnen Leben einhaucht, fast nie gelang es ihm, den innern Kern eines Charakters schnell zu fassen, und aus ihm heraus alles einzelne zu begreifen, er sieht ihn wol, aber nicht in dem Augenblick, wo es darauf ankäme, sondern beiläufig. Daher der Aufwand von Farben, die nicht immer zueinander stimmen und die in ihrer Mannigfaltigkeit mehr verwirren als deutlich machen. Daher seine Mystik, die unfähig, das Gesetz des Wesens zu ergründen, im sinnlosen Spiel des Zufalls ein geheimes Gesetz sucht und sich in dunkle Weis¬ sagungen flüchtet, weil sie in ihrer Einsicht sich selbst nicht genügt. In seinen Borzügen wie in seinen Schwächen ist Müller eine höchst inter¬ essante Erscheinung, die wol eine gründliche und zusammenhängende Darstel¬ lung verdient. Noch bedeutender aber wird sein Leben dadurch, daß sich alle große Stimmungen der Zeit in ihm auf das Mannigfaltigste kreuzen, viel¬ leicht mehr als bei irgend einem der großen Schriftsteller der Periode, weil er der vielseitigste und beweglichste war. In den 40 Bänden seiner Schriften, wenn man die (i Supplementbande und andern Briefsammlungen z. B. die Gentzschcn dazu nimmt, findet man das hinreichendste Material; möchte dieser Aussatz die Cotta'sche Buchhandlung veranlassen, eine neue chronologisch geordnete Ausgabe zu veranstalten, um die tollen Fehler der beiden frühern wenigstens einigermaßen auszulöschen. Johannes Müller wurde am 3. Jan. 1752 zu Schaffhausen geboren. Seine Vorfahren gehörten seit vielen Geschlechtern zum Beamtenstand des Cantons, sein Bater war der erste, der zur Theologie überging/ er war Dia¬ konus und Conrector zu Schaffhausen. Der herzliche liebevolle Ton in der Familie erfreut uns in den Briefen um so mehr, je häufiger wir in dem Leben unsrer großen Schriftsteller ungeregelten Familienverhältnissen begegnen. In allen Wechselfüllen seines Lebens bewahrte Müller seine treue Gesinnung für das väterliche Hnu6, er war ein guter Sohn und Bruder, und die feste An¬ hänglichkeit feines Gemüths macht viele Schwächen gut. Noch ehe erlesen konnte, wußte er die Hauptbegebenheiten der Schweizer-- geschichte. Sein Großvater mütterlicher Seite, I v h a n n c s sah o op, seit > 751 Pastor zu Schaffhausen, war auf seine Art ein Gelehrter: jeden freien Augen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/55
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/55>, abgerufen am 21.12.2024.