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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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"in sie der Zersetzung Preis zu geben. Aber wie verständig er in einem
wirklich historischen Zeitalter den Inhalt aus den Quellen loszuschälen
wußte, zeigt jede Zeile seiner Schweizergeschichte, für die er nicht blas jede
Urkunde durchforscht hatte, sondern von der er auch über jede Localität aus
unmittelbarer Anschauung Rechenschaft zu geben wußte. Man glaubt zu träu¬
men, wenn man den unermeßlichen Umfang seiner Lectüren und seiner Ex¬
cerpte verfolgt und dabei erwägt, daß er fortwährend durch diplomatische
Geschäfte, durch Gesellschaften, durch eine ausgebreitete Korrespondenz, durch
Reisen in seinen Arbeiten unterbrochen wurde. Leider verstand er nicht genug,
sich in seinem Schaffen zu concentriren, wie z. B. Ranke, der als Schrift¬
steller oft erstaunlich an ihn erinnert und der vielleicht durch ihn auf die echten
Quellen feiner Lieblingöperiode aufmerksam gemacht wurde. Die venetia-
nischen Gesnndtschastsberichte hat schon Müller sehr gut gekannt, sehr ver¬
ständig über sie geurtheilt, sehr bedeutende Details aus ihnen genommen.
Freilich hatte er nicht das Geschick seines Nachfolgers, aus diesen Details ein
anziehendes Bild zu machen.

Und doch stand er in der Achtung seiner Zeitgenossen grade als Künst¬
ler sehr hoch. Um das zu begreifen, müssen wir an Klopstock denken, der
damals als der erste Dichter gefeiert, heute kaum mehr gelesen werden kann.
Beide hatten eine verwandte Aufgabe. Es galt, die Darstellung aus dem
Gemeinen und Gewöhnlichen in das Ideale zu erhöhen. Klopstock fand eine
verwässerte Poesie, Müller eine triviale und rohe Prosa vor. Beide wandten
ein Mittel an, welches leicht zum Unwahren verleitet: sie ließen den Stil
nicht aus der Sache hervorgehen, sondern sie brachten ihn als eine ästhetische
Forderung der Sache entgegen. Sie lernten ihn beide aus den Alten,
aus der Bibel, aus der noch nicht verwässerten Volkssprache, z. B. Müller
aus den Chroniken; sie verwarfen jede Breite und Bequemlichkeit in der Form,
jedes Wort sollte bedeutend und charakteristisch wirken. Sie spannten das
Gemüth, um auch das scheinbar Unbedeutende mit einer gewissen Feierlichkeit
auszudrücken. Bleies ist infolge dessen gezwungen und manierirt, und am
wenigsten darf man ein Borbild in ihnen suchen. Aber wo das Gemüth
sich wirklich regt, und wo eine lebendige Anschauung die Seele erfüllt, finden
wir bei beiden und namentlich bei Müller noch heute bedeutende Stellen, die
uns mächtig ergreifen.

Freilich fehlte beiden etwas, was nicht blos für den Dichter die Haupt¬
sache ist: Gestaltungskraft. Müller hatte edle und warme Empfindungen,
lebhafte Anschauungen, einen scharfen Verstand, und die Fähigkeit tief zu
denken: das alles reicht aber noch nicht aus, die schöpferische Kraft zu er¬
setzen, die darin liegt, daß Empfindung, Bild und Gedanke gleichzeitig in
der Seele entspringen. Wenn Müller stark empfand, schwieg seine Jntelli-


»in sie der Zersetzung Preis zu geben. Aber wie verständig er in einem
wirklich historischen Zeitalter den Inhalt aus den Quellen loszuschälen
wußte, zeigt jede Zeile seiner Schweizergeschichte, für die er nicht blas jede
Urkunde durchforscht hatte, sondern von der er auch über jede Localität aus
unmittelbarer Anschauung Rechenschaft zu geben wußte. Man glaubt zu träu¬
men, wenn man den unermeßlichen Umfang seiner Lectüren und seiner Ex¬
cerpte verfolgt und dabei erwägt, daß er fortwährend durch diplomatische
Geschäfte, durch Gesellschaften, durch eine ausgebreitete Korrespondenz, durch
Reisen in seinen Arbeiten unterbrochen wurde. Leider verstand er nicht genug,
sich in seinem Schaffen zu concentriren, wie z. B. Ranke, der als Schrift¬
steller oft erstaunlich an ihn erinnert und der vielleicht durch ihn auf die echten
Quellen feiner Lieblingöperiode aufmerksam gemacht wurde. Die venetia-
nischen Gesnndtschastsberichte hat schon Müller sehr gut gekannt, sehr ver¬
ständig über sie geurtheilt, sehr bedeutende Details aus ihnen genommen.
Freilich hatte er nicht das Geschick seines Nachfolgers, aus diesen Details ein
anziehendes Bild zu machen.

Und doch stand er in der Achtung seiner Zeitgenossen grade als Künst¬
ler sehr hoch. Um das zu begreifen, müssen wir an Klopstock denken, der
damals als der erste Dichter gefeiert, heute kaum mehr gelesen werden kann.
Beide hatten eine verwandte Aufgabe. Es galt, die Darstellung aus dem
Gemeinen und Gewöhnlichen in das Ideale zu erhöhen. Klopstock fand eine
verwässerte Poesie, Müller eine triviale und rohe Prosa vor. Beide wandten
ein Mittel an, welches leicht zum Unwahren verleitet: sie ließen den Stil
nicht aus der Sache hervorgehen, sondern sie brachten ihn als eine ästhetische
Forderung der Sache entgegen. Sie lernten ihn beide aus den Alten,
aus der Bibel, aus der noch nicht verwässerten Volkssprache, z. B. Müller
aus den Chroniken; sie verwarfen jede Breite und Bequemlichkeit in der Form,
jedes Wort sollte bedeutend und charakteristisch wirken. Sie spannten das
Gemüth, um auch das scheinbar Unbedeutende mit einer gewissen Feierlichkeit
auszudrücken. Bleies ist infolge dessen gezwungen und manierirt, und am
wenigsten darf man ein Borbild in ihnen suchen. Aber wo das Gemüth
sich wirklich regt, und wo eine lebendige Anschauung die Seele erfüllt, finden
wir bei beiden und namentlich bei Müller noch heute bedeutende Stellen, die
uns mächtig ergreifen.

Freilich fehlte beiden etwas, was nicht blos für den Dichter die Haupt¬
sache ist: Gestaltungskraft. Müller hatte edle und warme Empfindungen,
lebhafte Anschauungen, einen scharfen Verstand, und die Fähigkeit tief zu
denken: das alles reicht aber noch nicht aus, die schöpferische Kraft zu er¬
setzen, die darin liegt, daß Empfindung, Bild und Gedanke gleichzeitig in
der Seele entspringen. Wenn Müller stark empfand, schwieg seine Jntelli-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/54>, abgerufen am 30.12.2024.