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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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galcr Form regieren konnte. Er hat die Parteien nicht beherrscht, sondern
nur immer durch einzelne Opfer abgesaust, und so blieben alle Parteien seine
Feinde mit Ausschluß derjenigen, die Ruhe um jeden Preis wollte, und das ist
in aufgeregten Zeiten unter allen die schwächste Stütze. Hochfahrend und ri-
goristisch in seinen Formen, war er im Wesen ebenso geschmeidig wie seine
College"; zu wenig wirklicher Staatsmann, ja zu wenig mit den realen Be¬
dürfnissen seines Volks vertraut, um ohne Nachfrage bei andern aus seinem
eigenen Wissen die Principien der Verwaltung zu entnehmen/ was bei dem
regicrungsbedürftigcn Volk der Franzose" unumgänglich nöthig ist. betrachtete
er jeden seiner Schritte als das Resultat eines stillschweigenden Kompromisses,
und während die Franzosen verlangten, beschäftigt, unterhalten und geführt
zu werden, war es sein einziges Bestreben, sie durch kleine Mittel mundtodt
zu machen d. h. die Opposition in die Minorität zu bringen. Für ihn war
der Staat wirklich nur in den Kammern und dem M^s IvMl und darin lag
hauptsächlich die Einseitigkeit seiner Doctrin. Das spätere Regiment, das
mit dem Volk in Masse besser vertraut ist, hat sich in die entgegengesetzte
Einseitigkeit verloren, es hat das löMl gänzlich zerstört und es macht
Guizot nicht blos Ehre, sondern es ist für die Zukunft auch im höchsten Grade
nützlich, daß er diese Begriffe wieder zu Ehren bringt. Es our sroilich ein
Irrthum. den Franzosen bereits die Reife zur gesetzlichen Regierung zuzutraun,
daß sie aber dazu erzogen werden müssen, wenn überhaupt ein Fortschritt
gedacht werden soll, das ist die ernste und bedeutungsvolle Aufgabe der heu¬
tigen stillschweigenden Opposition.

Der Vorwurf, den man Guizot macht, er sei gegen Napoleon ungerecht,
ist vollkommen unbegründet und nur aus dem fanatischen Enthusiasmus zu
begreifen, mit dem es jetzt Stil ist den großen Kaiser zu besprechen. Guizot
ist gegen ihn wie gegen seine Anhänger eher rücksichtsvoll als herausfordernd.
Es ist zu bedauern, daß er über diese erste Zeit seines Lebens und über feine
literarische Thätigkeit überhaupt im Ganzen nur sehr wenig mittheilt. Wir
würden z. B. gern etwas darüber erfahren haben, was es mit seinen deut¬
schen Studien eigentlich für eine Bewandtniß hat. Die Achtung, mit der er
von seinen alten Parteigenossen. NoyerCollard u. s. w. spricht, thut um so
mehr wohl, da es jetzt bei den Memoirenschreibern Rede geworden zu sein
scheint, ihre eigne Vergangenheit zu verleugnen. Ueber Ludwig 18. werden
einige geistvolle Bemerkungen gemacht und es verdient aufgezeichnet zu wer¬
den, daß dieser Fürst mehr als ein anderer den modernen Schriftstellern dazu
Gelegenheit gibt: ein Zeichen, daß es ihm an geistigem Stoff nicht gefehlt
hat. Und in der That möchte er seit Ludwig 14. unter allen Bourbons der.
jenige sein, der trotz seiner Schwächen noch am meisten den Namen eines
Königs verdient. Als Guizot seine Mission nach Gent berichtet, die vor Jah-


galcr Form regieren konnte. Er hat die Parteien nicht beherrscht, sondern
nur immer durch einzelne Opfer abgesaust, und so blieben alle Parteien seine
Feinde mit Ausschluß derjenigen, die Ruhe um jeden Preis wollte, und das ist
in aufgeregten Zeiten unter allen die schwächste Stütze. Hochfahrend und ri-
goristisch in seinen Formen, war er im Wesen ebenso geschmeidig wie seine
College»; zu wenig wirklicher Staatsmann, ja zu wenig mit den realen Be¬
dürfnissen seines Volks vertraut, um ohne Nachfrage bei andern aus seinem
eigenen Wissen die Principien der Verwaltung zu entnehmen/ was bei dem
regicrungsbedürftigcn Volk der Franzose» unumgänglich nöthig ist. betrachtete
er jeden seiner Schritte als das Resultat eines stillschweigenden Kompromisses,
und während die Franzosen verlangten, beschäftigt, unterhalten und geführt
zu werden, war es sein einziges Bestreben, sie durch kleine Mittel mundtodt
zu machen d. h. die Opposition in die Minorität zu bringen. Für ihn war
der Staat wirklich nur in den Kammern und dem M^s IvMl und darin lag
hauptsächlich die Einseitigkeit seiner Doctrin. Das spätere Regiment, das
mit dem Volk in Masse besser vertraut ist, hat sich in die entgegengesetzte
Einseitigkeit verloren, es hat das löMl gänzlich zerstört und es macht
Guizot nicht blos Ehre, sondern es ist für die Zukunft auch im höchsten Grade
nützlich, daß er diese Begriffe wieder zu Ehren bringt. Es our sroilich ein
Irrthum. den Franzosen bereits die Reife zur gesetzlichen Regierung zuzutraun,
daß sie aber dazu erzogen werden müssen, wenn überhaupt ein Fortschritt
gedacht werden soll, das ist die ernste und bedeutungsvolle Aufgabe der heu¬
tigen stillschweigenden Opposition.

Der Vorwurf, den man Guizot macht, er sei gegen Napoleon ungerecht,
ist vollkommen unbegründet und nur aus dem fanatischen Enthusiasmus zu
begreifen, mit dem es jetzt Stil ist den großen Kaiser zu besprechen. Guizot
ist gegen ihn wie gegen seine Anhänger eher rücksichtsvoll als herausfordernd.
Es ist zu bedauern, daß er über diese erste Zeit seines Lebens und über feine
literarische Thätigkeit überhaupt im Ganzen nur sehr wenig mittheilt. Wir
würden z. B. gern etwas darüber erfahren haben, was es mit seinen deut¬
schen Studien eigentlich für eine Bewandtniß hat. Die Achtung, mit der er
von seinen alten Parteigenossen. NoyerCollard u. s. w. spricht, thut um so
mehr wohl, da es jetzt bei den Memoirenschreibern Rede geworden zu sein
scheint, ihre eigne Vergangenheit zu verleugnen. Ueber Ludwig 18. werden
einige geistvolle Bemerkungen gemacht und es verdient aufgezeichnet zu wer¬
den, daß dieser Fürst mehr als ein anderer den modernen Schriftstellern dazu
Gelegenheit gibt: ein Zeichen, daß es ihm an geistigem Stoff nicht gefehlt
hat. Und in der That möchte er seit Ludwig 14. unter allen Bourbons der.
jenige sein, der trotz seiner Schwächen noch am meisten den Namen eines
Königs verdient. Als Guizot seine Mission nach Gent berichtet, die vor Jah-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/412>, abgerufen am 22.12.2024.