Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Stube gebracht wurde, haben erstlich zwei, dann vier Mann genug an ihr zu
halten gehabt. Indeß wird am Samstag grade zu Mitternacht dein ehr¬
würdigen und wohlgelahrten Herrn Wolfgang Agricola, Dechant und Pfarr-
herr, ein Bote zugeschickt. Seine Ehrwürden solle eilends auf und einen Gang
zu der alten Schäferin thun, denn dieselbe wäre am Abend verrückt worden.
Aber wohlgcdachter Dechant meinte, die Sache wäre bei weitem nicht so heftig
beschaffen, als man ihm berichtete, wollte, auch so spät und in einer so heiligen
Nacht nicht ausgehen, sondern vermeldete, er hätte wol Sorge getragen, das
stete gottlose Zanken und Hadern werde zuletzt einen solchen Ausgang nehmen,
befahl jedoch, wenn die Geißlbrechtin so unrichtig wäre, daß man sie nicht
erhalten und dämmen könnte, so sollte man sie unterdeß in zwei Ketten schlagen,
wie auch geschah.

Am Morgen, nachdem er die Melken verrichtet, nahm der Herr Dechant
als ein Mann, der schon früher in dergleichen Fällen auf dem Platze gewesen,
zur Fürsorge ein ganz kleines Heilthumtäflein. worin ein Stückchen von dein
heiligen Kreuz und von der Säule, daran Christus der Herr gegeißelt worden,
ferner ein a.MNL Doi, das im Jahre des Jubiläums, und endlich ein Stück
weißes Wachs, welches vom krumm" pcnckitox selbst geweiht war. zu sich und
schob das alles auf seinen Leib. Als er des Gcißlbrechts Haus zu ging und
die Apollonia mit ihrem betrügerischen Inwohner, der sie so übel tractirte.
den Herrn Dechanten nur gewahr wurde, nimmermehr werden es die, welche
nicht dabei gewesen sind, glauben tonnen, was für ein Wüthen, Toben und
Beißen sich da erhoben. Denn ungeachtet die Frau an zwei Ketten ausgespannt
lag, hatten doch noch vier Mann zu thun, um sie zu halten. Vielgcdachtcr
Herr Dechant sing an und sagte: "Ach, Appcl, das sei Gott im Himmel ge¬
klagt, der große Jammer ist mir ein herzliches Leid! Christ gcsegne dich, wie
ist dir geschehen." Da fängt die arme Fran.mit einer starken, männlichen,
zuvor bei ihr ungewohnten Stimme an: "Hui, Pfaff. troile dich, was
frage ich nach dir und deinem Christ, ich hab für mein Lebelang genug, siehst
du nicht, wie wohl ich lebe? Ich bedarf deines Himmels nimmer." Darauf
antwortete ihr der Herr Dechant: "Wie wohl du lebst, das sehe ich leider,
dein gutes Leben wollte ich keinem Hunde, geschweige einem Menschen gönnen."
Und zu einem Probczeichen, ob sie besessen, oder sonst natürlich verrückt wäre,
nahm Herr Dechant erst das vorgemeldete Heilthum. und da sie ihm den
Rücken wandte, schob er es ohne ihr Wissen mit seiner Hand auf ihren Kopf.
Was sich von Stund an für Jammer, Klage und Winselei erhoben, und wie
sie in den Ketten gewüthet und mit schäumendem Munde wie ein beißendes
Pferd nach dem Herrn geschnappt hat, davon werden diejenigen, welche sie
gehalten, und die Stube voll Leute bessere Meldung thun, als S. Ehrwürden.
Ihr Geschrei war immer: "O Pfaff, o Pfaff, thu mir das Ding von dem


Stube gebracht wurde, haben erstlich zwei, dann vier Mann genug an ihr zu
halten gehabt. Indeß wird am Samstag grade zu Mitternacht dein ehr¬
würdigen und wohlgelahrten Herrn Wolfgang Agricola, Dechant und Pfarr-
herr, ein Bote zugeschickt. Seine Ehrwürden solle eilends auf und einen Gang
zu der alten Schäferin thun, denn dieselbe wäre am Abend verrückt worden.
Aber wohlgcdachter Dechant meinte, die Sache wäre bei weitem nicht so heftig
beschaffen, als man ihm berichtete, wollte, auch so spät und in einer so heiligen
Nacht nicht ausgehen, sondern vermeldete, er hätte wol Sorge getragen, das
stete gottlose Zanken und Hadern werde zuletzt einen solchen Ausgang nehmen,
befahl jedoch, wenn die Geißlbrechtin so unrichtig wäre, daß man sie nicht
erhalten und dämmen könnte, so sollte man sie unterdeß in zwei Ketten schlagen,
wie auch geschah.

Am Morgen, nachdem er die Melken verrichtet, nahm der Herr Dechant
als ein Mann, der schon früher in dergleichen Fällen auf dem Platze gewesen,
zur Fürsorge ein ganz kleines Heilthumtäflein. worin ein Stückchen von dein
heiligen Kreuz und von der Säule, daran Christus der Herr gegeißelt worden,
ferner ein a.MNL Doi, das im Jahre des Jubiläums, und endlich ein Stück
weißes Wachs, welches vom krumm» pcnckitox selbst geweiht war. zu sich und
schob das alles auf seinen Leib. Als er des Gcißlbrechts Haus zu ging und
die Apollonia mit ihrem betrügerischen Inwohner, der sie so übel tractirte.
den Herrn Dechanten nur gewahr wurde, nimmermehr werden es die, welche
nicht dabei gewesen sind, glauben tonnen, was für ein Wüthen, Toben und
Beißen sich da erhoben. Denn ungeachtet die Frau an zwei Ketten ausgespannt
lag, hatten doch noch vier Mann zu thun, um sie zu halten. Vielgcdachtcr
Herr Dechant sing an und sagte: „Ach, Appcl, das sei Gott im Himmel ge¬
klagt, der große Jammer ist mir ein herzliches Leid! Christ gcsegne dich, wie
ist dir geschehen." Da fängt die arme Fran.mit einer starken, männlichen,
zuvor bei ihr ungewohnten Stimme an: „Hui, Pfaff. troile dich, was
frage ich nach dir und deinem Christ, ich hab für mein Lebelang genug, siehst
du nicht, wie wohl ich lebe? Ich bedarf deines Himmels nimmer." Darauf
antwortete ihr der Herr Dechant: „Wie wohl du lebst, das sehe ich leider,
dein gutes Leben wollte ich keinem Hunde, geschweige einem Menschen gönnen."
Und zu einem Probczeichen, ob sie besessen, oder sonst natürlich verrückt wäre,
nahm Herr Dechant erst das vorgemeldete Heilthum. und da sie ihm den
Rücken wandte, schob er es ohne ihr Wissen mit seiner Hand auf ihren Kopf.
Was sich von Stund an für Jammer, Klage und Winselei erhoben, und wie
sie in den Ketten gewüthet und mit schäumendem Munde wie ein beißendes
Pferd nach dem Herrn geschnappt hat, davon werden diejenigen, welche sie
gehalten, und die Stube voll Leute bessere Meldung thun, als S. Ehrwürden.
Ihr Geschrei war immer: „O Pfaff, o Pfaff, thu mir das Ding von dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186795"/>
            <p xml:id="ID_860" prev="#ID_859"> Stube gebracht wurde, haben erstlich zwei, dann vier Mann genug an ihr zu<lb/>
halten gehabt. Indeß wird am Samstag grade zu Mitternacht dein ehr¬<lb/>
würdigen und wohlgelahrten Herrn Wolfgang Agricola, Dechant und Pfarr-<lb/>
herr, ein Bote zugeschickt. Seine Ehrwürden solle eilends auf und einen Gang<lb/>
zu der alten Schäferin thun, denn dieselbe wäre am Abend verrückt worden.<lb/>
Aber wohlgcdachter Dechant meinte, die Sache wäre bei weitem nicht so heftig<lb/>
beschaffen, als man ihm berichtete, wollte, auch so spät und in einer so heiligen<lb/>
Nacht nicht ausgehen, sondern vermeldete, er hätte wol Sorge getragen, das<lb/>
stete gottlose Zanken und Hadern werde zuletzt einen solchen Ausgang nehmen,<lb/>
befahl jedoch, wenn die Geißlbrechtin so unrichtig wäre, daß man sie nicht<lb/>
erhalten und dämmen könnte, so sollte man sie unterdeß in zwei Ketten schlagen,<lb/>
wie auch geschah.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_861" next="#ID_862"> Am Morgen, nachdem er die Melken verrichtet, nahm der Herr Dechant<lb/>
als ein Mann, der schon früher in dergleichen Fällen auf dem Platze gewesen,<lb/>
zur Fürsorge ein ganz kleines Heilthumtäflein. worin ein Stückchen von dein<lb/>
heiligen Kreuz und von der Säule, daran Christus der Herr gegeißelt worden,<lb/>
ferner ein a.MNL Doi, das im Jahre des Jubiläums, und endlich ein Stück<lb/>
weißes Wachs, welches vom krumm» pcnckitox selbst geweiht war. zu sich und<lb/>
schob das alles auf seinen Leib. Als er des Gcißlbrechts Haus zu ging und<lb/>
die Apollonia mit ihrem betrügerischen Inwohner, der sie so übel tractirte.<lb/>
den Herrn Dechanten nur gewahr wurde, nimmermehr werden es die, welche<lb/>
nicht dabei gewesen sind, glauben tonnen, was für ein Wüthen, Toben und<lb/>
Beißen sich da erhoben. Denn ungeachtet die Frau an zwei Ketten ausgespannt<lb/>
lag, hatten doch noch vier Mann zu thun, um sie zu halten. Vielgcdachtcr<lb/>
Herr Dechant sing an und sagte: &#x201E;Ach, Appcl, das sei Gott im Himmel ge¬<lb/>
klagt, der große Jammer ist mir ein herzliches Leid! Christ gcsegne dich, wie<lb/>
ist dir geschehen." Da fängt die arme Fran.mit einer starken, männlichen,<lb/>
zuvor bei ihr ungewohnten Stimme an: &#x201E;Hui, Pfaff. troile dich, was<lb/>
frage ich nach dir und deinem Christ, ich hab für mein Lebelang genug, siehst<lb/>
du nicht, wie wohl ich lebe? Ich bedarf deines Himmels nimmer." Darauf<lb/>
antwortete ihr der Herr Dechant: &#x201E;Wie wohl du lebst, das sehe ich leider,<lb/>
dein gutes Leben wollte ich keinem Hunde, geschweige einem Menschen gönnen."<lb/>
Und zu einem Probczeichen, ob sie besessen, oder sonst natürlich verrückt wäre,<lb/>
nahm Herr Dechant erst das vorgemeldete Heilthum. und da sie ihm den<lb/>
Rücken wandte, schob er es ohne ihr Wissen mit seiner Hand auf ihren Kopf.<lb/>
Was sich von Stund an für Jammer, Klage und Winselei erhoben, und wie<lb/>
sie in den Ketten gewüthet und mit schäumendem Munde wie ein beißendes<lb/>
Pferd nach dem Herrn geschnappt hat, davon werden diejenigen, welche sie<lb/>
gehalten, und die Stube voll Leute bessere Meldung thun, als S. Ehrwürden.<lb/>
Ihr Geschrei war immer: &#x201E;O Pfaff, o Pfaff, thu mir das Ding von dem</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Stube gebracht wurde, haben erstlich zwei, dann vier Mann genug an ihr zu halten gehabt. Indeß wird am Samstag grade zu Mitternacht dein ehr¬ würdigen und wohlgelahrten Herrn Wolfgang Agricola, Dechant und Pfarr- herr, ein Bote zugeschickt. Seine Ehrwürden solle eilends auf und einen Gang zu der alten Schäferin thun, denn dieselbe wäre am Abend verrückt worden. Aber wohlgcdachter Dechant meinte, die Sache wäre bei weitem nicht so heftig beschaffen, als man ihm berichtete, wollte, auch so spät und in einer so heiligen Nacht nicht ausgehen, sondern vermeldete, er hätte wol Sorge getragen, das stete gottlose Zanken und Hadern werde zuletzt einen solchen Ausgang nehmen, befahl jedoch, wenn die Geißlbrechtin so unrichtig wäre, daß man sie nicht erhalten und dämmen könnte, so sollte man sie unterdeß in zwei Ketten schlagen, wie auch geschah. Am Morgen, nachdem er die Melken verrichtet, nahm der Herr Dechant als ein Mann, der schon früher in dergleichen Fällen auf dem Platze gewesen, zur Fürsorge ein ganz kleines Heilthumtäflein. worin ein Stückchen von dein heiligen Kreuz und von der Säule, daran Christus der Herr gegeißelt worden, ferner ein a.MNL Doi, das im Jahre des Jubiläums, und endlich ein Stück weißes Wachs, welches vom krumm» pcnckitox selbst geweiht war. zu sich und schob das alles auf seinen Leib. Als er des Gcißlbrechts Haus zu ging und die Apollonia mit ihrem betrügerischen Inwohner, der sie so übel tractirte. den Herrn Dechanten nur gewahr wurde, nimmermehr werden es die, welche nicht dabei gewesen sind, glauben tonnen, was für ein Wüthen, Toben und Beißen sich da erhoben. Denn ungeachtet die Frau an zwei Ketten ausgespannt lag, hatten doch noch vier Mann zu thun, um sie zu halten. Vielgcdachtcr Herr Dechant sing an und sagte: „Ach, Appcl, das sei Gott im Himmel ge¬ klagt, der große Jammer ist mir ein herzliches Leid! Christ gcsegne dich, wie ist dir geschehen." Da fängt die arme Fran.mit einer starken, männlichen, zuvor bei ihr ungewohnten Stimme an: „Hui, Pfaff. troile dich, was frage ich nach dir und deinem Christ, ich hab für mein Lebelang genug, siehst du nicht, wie wohl ich lebe? Ich bedarf deines Himmels nimmer." Darauf antwortete ihr der Herr Dechant: „Wie wohl du lebst, das sehe ich leider, dein gutes Leben wollte ich keinem Hunde, geschweige einem Menschen gönnen." Und zu einem Probczeichen, ob sie besessen, oder sonst natürlich verrückt wäre, nahm Herr Dechant erst das vorgemeldete Heilthum. und da sie ihm den Rücken wandte, schob er es ohne ihr Wissen mit seiner Hand auf ihren Kopf. Was sich von Stund an für Jammer, Klage und Winselei erhoben, und wie sie in den Ketten gewüthet und mit schäumendem Munde wie ein beißendes Pferd nach dem Herrn geschnappt hat, davon werden diejenigen, welche sie gehalten, und die Stube voll Leute bessere Meldung thun, als S. Ehrwürden. Ihr Geschrei war immer: „O Pfaff, o Pfaff, thu mir das Ding von dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/382>, abgerufen am 21.12.2024.