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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Bonstetten 26. März 1801: "Da, wo ihr seid, but man keine Idee von den
Schwierigkeiten, von hier aus zu sagen und zu schreiben, was allein ich sagen
möchte; und lieber schweigeich überhaupt, als schief und halb nur zu reden;
ich habe es einigemal müssen thun; und wie ists mir von Euren nor¬
dischen Philosophen genommen worden! Ihr werdet sagen, warum ich denn
bleibe? Soll ich nun, in dieser Periode der Verwirrung und Erschütterung in
meinem so. Jahre wieder in die Welt hinaus um ein Stück Brot? denn in
der Schweiz habe ich ja alles verloren." Im Mai 1801 verstattete man ihm
eine Uricmbsreise nach der Schweiz, dein Rhein und Belgien. Man erstaunt
nicht wenig, als er den französischen Boden mit Begeisterung betritt und den
Nationalstolz des revolutionären Frankreichs bewundert. Im Juli entführte
er seinen Bruder mit Familie nach Wien, wo sie sich bis zum September auf¬
hielten. Im folgenden Jahr knüpfte er wieder ein wunderliches Verhältniß,
das an die alten Beziehungen zu Tronchin erinnert: der jetzt 50jährige Mann
fand einen vornehmen Jüngling, der ihm auf seine Kosten ein sorgenfreies
Alter bereiten wollte, und ging mit Enthusiasmus daraus ein! Gleich daraus
betrog ihn eine Gaunerbande um den größern Theil seines Vermögens. Dies
geschah 1803, wo er überhaupt von manchen bittern Erfahrungen heimgesucht
wurde, obgleich sein Verhältniß zur Negierung sich besserte. Um dieselbe Zeit
ereignete sich ein Zwischenfall, der aus seinen Charakter ein eigenthümliches
Licht wirst. Der "Freimüthige" brachte eine Erzählung, nach welcher der
Bibliothekar einer deutschen Hauptstadt, zugleich ein Gelehrter von europä¬
ischem Ruf, einem Durchreisenden Montesquieu nicht habe vorlegen können,
weil dieser verboten sei. Müller glaubte diese Anekdote auf sich beziehn zu
müssen und sandte am 12. Nov. 1803 eine Entgegnung ein, worin er jene
Notiz als ein schändliche Verleumdung bezeichnete; er setzte in dem Schreiben
an Nicolai ausdrücklich hinzu: "Montesquieu namentlich ist ganz erlaubt."
Noch auf einer Ferienreise schreibt er von Prag 31. Dec. 1803 an seinen
Bruder, er wisse jetzt seine Vorgesetzten besser zu würdigen, "diese Sachen
sind jetzt auf recht gutem Weg, an mir soll es nicht fehlen." Am s. Jan.
1804 kam er in Dresden an, wo er Herders Tod erfuhr. Gleich nach seiner
Ankunft in Weimar besuchte er die Witwe und übernahm mit seinem Bruder
und Heyne die Herausgabe der Hcrderschen Schriften, die er später gewissen¬
haft ausführte.") "Zu Weimar wurde ich aufs beste empfangen. Die ernem
erke Freundschaft des in den Tagen des alten Fürstenbundes viel mit Mir
verbundenen Herzogs, die ausnehmende Güte der bis in den Tod getreusten
Freundin Herders, der verwittibten Herzogin, das wohlthuende Geschäft mit



') Namentlich die historische Einleitung zum Cid <1"05) im Stil der Schweizergeschichte
ist von ihm.

Bonstetten 26. März 1801: „Da, wo ihr seid, but man keine Idee von den
Schwierigkeiten, von hier aus zu sagen und zu schreiben, was allein ich sagen
möchte; und lieber schweigeich überhaupt, als schief und halb nur zu reden;
ich habe es einigemal müssen thun; und wie ists mir von Euren nor¬
dischen Philosophen genommen worden! Ihr werdet sagen, warum ich denn
bleibe? Soll ich nun, in dieser Periode der Verwirrung und Erschütterung in
meinem so. Jahre wieder in die Welt hinaus um ein Stück Brot? denn in
der Schweiz habe ich ja alles verloren." Im Mai 1801 verstattete man ihm
eine Uricmbsreise nach der Schweiz, dein Rhein und Belgien. Man erstaunt
nicht wenig, als er den französischen Boden mit Begeisterung betritt und den
Nationalstolz des revolutionären Frankreichs bewundert. Im Juli entführte
er seinen Bruder mit Familie nach Wien, wo sie sich bis zum September auf¬
hielten. Im folgenden Jahr knüpfte er wieder ein wunderliches Verhältniß,
das an die alten Beziehungen zu Tronchin erinnert: der jetzt 50jährige Mann
fand einen vornehmen Jüngling, der ihm auf seine Kosten ein sorgenfreies
Alter bereiten wollte, und ging mit Enthusiasmus daraus ein! Gleich daraus
betrog ihn eine Gaunerbande um den größern Theil seines Vermögens. Dies
geschah 1803, wo er überhaupt von manchen bittern Erfahrungen heimgesucht
wurde, obgleich sein Verhältniß zur Negierung sich besserte. Um dieselbe Zeit
ereignete sich ein Zwischenfall, der aus seinen Charakter ein eigenthümliches
Licht wirst. Der „Freimüthige" brachte eine Erzählung, nach welcher der
Bibliothekar einer deutschen Hauptstadt, zugleich ein Gelehrter von europä¬
ischem Ruf, einem Durchreisenden Montesquieu nicht habe vorlegen können,
weil dieser verboten sei. Müller glaubte diese Anekdote auf sich beziehn zu
müssen und sandte am 12. Nov. 1803 eine Entgegnung ein, worin er jene
Notiz als ein schändliche Verleumdung bezeichnete; er setzte in dem Schreiben
an Nicolai ausdrücklich hinzu: „Montesquieu namentlich ist ganz erlaubt."
Noch auf einer Ferienreise schreibt er von Prag 31. Dec. 1803 an seinen
Bruder, er wisse jetzt seine Vorgesetzten besser zu würdigen, „diese Sachen
sind jetzt auf recht gutem Weg, an mir soll es nicht fehlen." Am s. Jan.
1804 kam er in Dresden an, wo er Herders Tod erfuhr. Gleich nach seiner
Ankunft in Weimar besuchte er die Witwe und übernahm mit seinem Bruder
und Heyne die Herausgabe der Hcrderschen Schriften, die er später gewissen¬
haft ausführte.") „Zu Weimar wurde ich aufs beste empfangen. Die ernem
erke Freundschaft des in den Tagen des alten Fürstenbundes viel mit Mir
verbundenen Herzogs, die ausnehmende Güte der bis in den Tod getreusten
Freundin Herders, der verwittibten Herzogin, das wohlthuende Geschäft mit



') Namentlich die historische Einleitung zum Cid <1«05) im Stil der Schweizergeschichte
ist von ihm.
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[0320] Bonstetten 26. März 1801: „Da, wo ihr seid, but man keine Idee von den Schwierigkeiten, von hier aus zu sagen und zu schreiben, was allein ich sagen möchte; und lieber schweigeich überhaupt, als schief und halb nur zu reden; ich habe es einigemal müssen thun; und wie ists mir von Euren nor¬ dischen Philosophen genommen worden! Ihr werdet sagen, warum ich denn bleibe? Soll ich nun, in dieser Periode der Verwirrung und Erschütterung in meinem so. Jahre wieder in die Welt hinaus um ein Stück Brot? denn in der Schweiz habe ich ja alles verloren." Im Mai 1801 verstattete man ihm eine Uricmbsreise nach der Schweiz, dein Rhein und Belgien. Man erstaunt nicht wenig, als er den französischen Boden mit Begeisterung betritt und den Nationalstolz des revolutionären Frankreichs bewundert. Im Juli entführte er seinen Bruder mit Familie nach Wien, wo sie sich bis zum September auf¬ hielten. Im folgenden Jahr knüpfte er wieder ein wunderliches Verhältniß, das an die alten Beziehungen zu Tronchin erinnert: der jetzt 50jährige Mann fand einen vornehmen Jüngling, der ihm auf seine Kosten ein sorgenfreies Alter bereiten wollte, und ging mit Enthusiasmus daraus ein! Gleich daraus betrog ihn eine Gaunerbande um den größern Theil seines Vermögens. Dies geschah 1803, wo er überhaupt von manchen bittern Erfahrungen heimgesucht wurde, obgleich sein Verhältniß zur Negierung sich besserte. Um dieselbe Zeit ereignete sich ein Zwischenfall, der aus seinen Charakter ein eigenthümliches Licht wirst. Der „Freimüthige" brachte eine Erzählung, nach welcher der Bibliothekar einer deutschen Hauptstadt, zugleich ein Gelehrter von europä¬ ischem Ruf, einem Durchreisenden Montesquieu nicht habe vorlegen können, weil dieser verboten sei. Müller glaubte diese Anekdote auf sich beziehn zu müssen und sandte am 12. Nov. 1803 eine Entgegnung ein, worin er jene Notiz als ein schändliche Verleumdung bezeichnete; er setzte in dem Schreiben an Nicolai ausdrücklich hinzu: „Montesquieu namentlich ist ganz erlaubt." Noch auf einer Ferienreise schreibt er von Prag 31. Dec. 1803 an seinen Bruder, er wisse jetzt seine Vorgesetzten besser zu würdigen, „diese Sachen sind jetzt auf recht gutem Weg, an mir soll es nicht fehlen." Am s. Jan. 1804 kam er in Dresden an, wo er Herders Tod erfuhr. Gleich nach seiner Ankunft in Weimar besuchte er die Witwe und übernahm mit seinem Bruder und Heyne die Herausgabe der Hcrderschen Schriften, die er später gewissen¬ haft ausführte.") „Zu Weimar wurde ich aufs beste empfangen. Die ernem erke Freundschaft des in den Tagen des alten Fürstenbundes viel mit Mir verbundenen Herzogs, die ausnehmende Güte der bis in den Tod getreusten Freundin Herders, der verwittibten Herzogin, das wohlthuende Geschäft mit ') Namentlich die historische Einleitung zum Cid <1«05) im Stil der Schweizergeschichte ist von ihm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/320>, abgerufen am 21.12.2024.