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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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wie im praktischen Leben ist der Leitton in den zahlreichen Recensionen
jener Periode. Müller war damals unbestritten die erste Autorität in der
Geschichte, die gefeiertsten Schriftsteller huldigten ihm und jeder junge Mann
von Streben und Talent brachte ihm die Erstlinge seiner historischen Muse
unter warmen Worten der Verehrung: Müllers wohlwollendes und empfäng¬
liches Gemüth konnte diesen Zeichen allgemeiner Anerkennung nicht wider¬
stehen. In der Regel vergalt er es durch eine günstige Anzeige, er wird
fast nur da bitter, wo der Schriftsteller vermessen über die beglaubigten That¬
sachen hinausgeht. Zu seinen entschiedensten Günstlingen gehörte damals
der junge Woltmann in Jena. Als dieser 1796 einen Grundriß der
ältern Menschengeschichte schrieb, nahm Müller in der sehr ausführlichen
und günstigen Anzeige Gelegenheit, sich über den Begriff einer Philosophie
der Geschichte überhaupt nuszusprechcn. "Der Verfasser möchte den Stoff
mit dem höhern Geist der kritischen Philosophie beleben und durch allgemeine
Formen die bisherige Ansicht weltbürgerlich erweitern. Er bestimmt den Be¬
griff der Menschengeschichte als eine Darstellung der ununterbrochenen Ver¬
vollkommnung der bürgerlichen Verfassungen und des Staatenvcrhältnifses:
eine Bestimmung, welche jeden Leser um so begieriger machen muß. sie aus-
geführt zu sehen, je weniger etwa sein nicht so erhabener Sinn zu einer so
schönen Aussicht in seinen Erfahrungen und in der Kenntniß der Thatsachen
Grund zu finden weiß. Was ist unser Geschlecht? Nicht dieses oder jenes,
durch den Einfluß glücklicher Umstände für eine Zeit lang etwas höher ge¬
hobene Volk, welches durch andere Zufälle, wo nicht selbst nach der Natur
der Sache in einem wenig entfernten Zeitalter wieder sinkt, oft ohne daß die
Summe seiner Geistescultur an ein anderes Volk zu neuer Bearbeitung über¬
ginge. Der menschenfreundliche Geschichtsdichter tröstet damit, daß Zeit¬
alter sichtbarer Abnahme der Entwicklung nöthig sein möchten, um die außer¬
ordentlichen Fortschritte der folgenden Zeiten möglich zu machen. Schließlich
schwingt er sich in Condorcets Regionen der fernen Zukunft, wo der nun
rege Keim allbeglüctendcr Freiheit und Gleichheit (nach Verwüstung alles
Vorhandenen) eine neue Erde und das goldene Zeitalter für alle Na¬
tionen erschaffen haben wird. Bis dahin, dächte ich, ließen wir es an-
stehn, die wunderbaren Schicksale einem allgemeinen Grundsätze unter¬
zuordnen. Wir find noch zu jung (erst seit Moses oder Cyrus); noch
konnten wir nicht durch genugsam wiederholte Erfahrung das Auge so
schärfen, daß wir bei verstohlenen Blick in das Buch der Ordnung Gottes
nicht in Gefahr wären, unsere Ideen und Wünsche seinem Gesetz unter¬
zuschieben. Es ist entschuldigenswerth. den dichterischen Sinn an solchen
idealischen Aussichten zu weiden: aber zu lange darf auch der Adler nicht in
die Sonne sehen; man möchte doch endlich für die Haupterforderniß (die


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wie im praktischen Leben ist der Leitton in den zahlreichen Recensionen
jener Periode. Müller war damals unbestritten die erste Autorität in der
Geschichte, die gefeiertsten Schriftsteller huldigten ihm und jeder junge Mann
von Streben und Talent brachte ihm die Erstlinge seiner historischen Muse
unter warmen Worten der Verehrung: Müllers wohlwollendes und empfäng¬
liches Gemüth konnte diesen Zeichen allgemeiner Anerkennung nicht wider¬
stehen. In der Regel vergalt er es durch eine günstige Anzeige, er wird
fast nur da bitter, wo der Schriftsteller vermessen über die beglaubigten That¬
sachen hinausgeht. Zu seinen entschiedensten Günstlingen gehörte damals
der junge Woltmann in Jena. Als dieser 1796 einen Grundriß der
ältern Menschengeschichte schrieb, nahm Müller in der sehr ausführlichen
und günstigen Anzeige Gelegenheit, sich über den Begriff einer Philosophie
der Geschichte überhaupt nuszusprechcn. „Der Verfasser möchte den Stoff
mit dem höhern Geist der kritischen Philosophie beleben und durch allgemeine
Formen die bisherige Ansicht weltbürgerlich erweitern. Er bestimmt den Be¬
griff der Menschengeschichte als eine Darstellung der ununterbrochenen Ver¬
vollkommnung der bürgerlichen Verfassungen und des Staatenvcrhältnifses:
eine Bestimmung, welche jeden Leser um so begieriger machen muß. sie aus-
geführt zu sehen, je weniger etwa sein nicht so erhabener Sinn zu einer so
schönen Aussicht in seinen Erfahrungen und in der Kenntniß der Thatsachen
Grund zu finden weiß. Was ist unser Geschlecht? Nicht dieses oder jenes,
durch den Einfluß glücklicher Umstände für eine Zeit lang etwas höher ge¬
hobene Volk, welches durch andere Zufälle, wo nicht selbst nach der Natur
der Sache in einem wenig entfernten Zeitalter wieder sinkt, oft ohne daß die
Summe seiner Geistescultur an ein anderes Volk zu neuer Bearbeitung über¬
ginge. Der menschenfreundliche Geschichtsdichter tröstet damit, daß Zeit¬
alter sichtbarer Abnahme der Entwicklung nöthig sein möchten, um die außer¬
ordentlichen Fortschritte der folgenden Zeiten möglich zu machen. Schließlich
schwingt er sich in Condorcets Regionen der fernen Zukunft, wo der nun
rege Keim allbeglüctendcr Freiheit und Gleichheit (nach Verwüstung alles
Vorhandenen) eine neue Erde und das goldene Zeitalter für alle Na¬
tionen erschaffen haben wird. Bis dahin, dächte ich, ließen wir es an-
stehn, die wunderbaren Schicksale einem allgemeinen Grundsätze unter¬
zuordnen. Wir find noch zu jung (erst seit Moses oder Cyrus); noch
konnten wir nicht durch genugsam wiederholte Erfahrung das Auge so
schärfen, daß wir bei verstohlenen Blick in das Buch der Ordnung Gottes
nicht in Gefahr wären, unsere Ideen und Wünsche seinem Gesetz unter¬
zuschieben. Es ist entschuldigenswerth. den dichterischen Sinn an solchen
idealischen Aussichten zu weiden: aber zu lange darf auch der Adler nicht in
die Sonne sehen; man möchte doch endlich für die Haupterforderniß (die


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[0315] wie im praktischen Leben ist der Leitton in den zahlreichen Recensionen jener Periode. Müller war damals unbestritten die erste Autorität in der Geschichte, die gefeiertsten Schriftsteller huldigten ihm und jeder junge Mann von Streben und Talent brachte ihm die Erstlinge seiner historischen Muse unter warmen Worten der Verehrung: Müllers wohlwollendes und empfäng¬ liches Gemüth konnte diesen Zeichen allgemeiner Anerkennung nicht wider¬ stehen. In der Regel vergalt er es durch eine günstige Anzeige, er wird fast nur da bitter, wo der Schriftsteller vermessen über die beglaubigten That¬ sachen hinausgeht. Zu seinen entschiedensten Günstlingen gehörte damals der junge Woltmann in Jena. Als dieser 1796 einen Grundriß der ältern Menschengeschichte schrieb, nahm Müller in der sehr ausführlichen und günstigen Anzeige Gelegenheit, sich über den Begriff einer Philosophie der Geschichte überhaupt nuszusprechcn. „Der Verfasser möchte den Stoff mit dem höhern Geist der kritischen Philosophie beleben und durch allgemeine Formen die bisherige Ansicht weltbürgerlich erweitern. Er bestimmt den Be¬ griff der Menschengeschichte als eine Darstellung der ununterbrochenen Ver¬ vollkommnung der bürgerlichen Verfassungen und des Staatenvcrhältnifses: eine Bestimmung, welche jeden Leser um so begieriger machen muß. sie aus- geführt zu sehen, je weniger etwa sein nicht so erhabener Sinn zu einer so schönen Aussicht in seinen Erfahrungen und in der Kenntniß der Thatsachen Grund zu finden weiß. Was ist unser Geschlecht? Nicht dieses oder jenes, durch den Einfluß glücklicher Umstände für eine Zeit lang etwas höher ge¬ hobene Volk, welches durch andere Zufälle, wo nicht selbst nach der Natur der Sache in einem wenig entfernten Zeitalter wieder sinkt, oft ohne daß die Summe seiner Geistescultur an ein anderes Volk zu neuer Bearbeitung über¬ ginge. Der menschenfreundliche Geschichtsdichter tröstet damit, daß Zeit¬ alter sichtbarer Abnahme der Entwicklung nöthig sein möchten, um die außer¬ ordentlichen Fortschritte der folgenden Zeiten möglich zu machen. Schließlich schwingt er sich in Condorcets Regionen der fernen Zukunft, wo der nun rege Keim allbeglüctendcr Freiheit und Gleichheit (nach Verwüstung alles Vorhandenen) eine neue Erde und das goldene Zeitalter für alle Na¬ tionen erschaffen haben wird. Bis dahin, dächte ich, ließen wir es an- stehn, die wunderbaren Schicksale einem allgemeinen Grundsätze unter¬ zuordnen. Wir find noch zu jung (erst seit Moses oder Cyrus); noch konnten wir nicht durch genugsam wiederholte Erfahrung das Auge so schärfen, daß wir bei verstohlenen Blick in das Buch der Ordnung Gottes nicht in Gefahr wären, unsere Ideen und Wünsche seinem Gesetz unter¬ zuschieben. Es ist entschuldigenswerth. den dichterischen Sinn an solchen idealischen Aussichten zu weiden: aber zu lange darf auch der Adler nicht in die Sonne sehen; man möchte doch endlich für die Haupterforderniß (die 39"°

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/315>, abgerufen am 21.12.2024.