Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.Sachen so zu sehen wie sie sind) und für die demüthigere Beschäftigung (bei Sachen so zu sehen wie sie sind) und für die demüthigere Beschäftigung (bei <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0316" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186728"/> <p xml:id="ID_729" prev="#ID_728" next="#ID_730"> Sachen so zu sehen wie sie sind) und für die demüthigere Beschäftigung (bei<lb/> oft schwachem Lichte die kaum halb hellen Gänge der Geschichte einzelner<lb/> Menschen und Völker zu durchwandern) die Lust, wo nicht das Geschick ver¬<lb/> lieren. Der wahre Zweck der Geschichte ist die Bildung des Menschen zum<lb/> praktischen Leben; sie soll ihn herunterfuhren von den gigantischen Luft¬<lb/> schlössern der Spekulation und Phantasie; nicht seine Einbildung, sondern<lb/> seinen Verstand und sein Herz beschäftigen; die Welt nicht wie er sie haben<lb/> möchte, oder mit Hilfe einiger guten Freunde umzuschaffen hofft, sondern wie<lb/> sie war und ist, die Verfassungen nicht nach abstracten Theorien, sondern in<lb/> dem Geist ihrer Institutionen und in ihrem Zusammenhang mit Localver-<lb/> hältnissen und hundert Umständen, überhaupt was die Philosophie generalisirte,<lb/> individualisiren und den Menschen ja nicht lehren, in Hoffnung auf ungewisse<lb/> Zukunft und idealisches Glück später Geschlechter die Pflicht zu vergessen,<lb/> seine Zeitgenossen glücklich zu machen." Es ist begreiflich, daß Müller bei<lb/> diesen Grundsätzen an der Polemik seines Freundes Herder gegen Kant den<lb/> lebhaftesten Antheil nahm, aber auch Nicolai dankt er 17. Sept. 1796 auf<lb/> das lebhafteste für den warmen Patriotismus in seiner Bekämpfung des<lb/> Missbrauchs, „welcher seit einigen Jahren mit der kritischen Philosophie ge¬<lb/> trieben wird und uns mit einem Rückfall in Scholastik und Barbarei bedroht.<lb/> Während meinem Geschäftsleben zu Mainz hatte ich für Studien zu wenig<lb/> Muße, um dem Anfang und Fortgang dieser literarischen Revolution zu<lb/> folgen; hier wo ich ungleich besser studire, ist mir begegnet, die empfohlenstcn<lb/> Schriften, die ich etwa lesen wollte, gar nicht zu verstehn; es war eine neue<lb/> Sprache ausgekommen, ich fand mich wie ein Mann aus dem vorigen Jahr¬<lb/> hundert. Zwar meine ich Kant selbst, und etwa Reinhold hin und wieder,<lb/> endlich gefaßt zu haben; aber weder kann ich finden, daß des wesentlich<lb/> Neuen und Wichtigen so gar viel ist, noch verstehe ich die Anwendung,<lb/> welche man von diesen Formeln jetzt auf alles machen will. Ich verstehe<lb/> meine eigne Wissenschaft, ich verstehe die Geschichte wie sie nun werden soll<lb/> nicht mehr. Aber so unangenehm es mir wird, wieder in die Schule gehn<lb/> zu sollen, so wollte ich, wenn die Nothwendigkeit mir einleuchtend wäre, noch<lb/> recht gern mich bequemen, wenn ich nicht durch eine mir weit empfindlichere<lb/> Bemerkung vollends mißmuthig würde: diese besteht darin, daß vor lauter<lb/> Spitzfindigkeit aller Wahrhcissinn sich mehr und mehr verliert. Die nahr¬<lb/> hafte Speise, die ich von Jugend auf bei den Alten fand, sehe ich mit lauter<lb/> eröme t'ouottv vertauscht, und die voll Wind von den Akademien kommenden<lb/> Jünglinge von so verdorbener Verdauungskraft, daß jene ihnen gar un¬<lb/> genießbar ist. Sie haben einen Dünkel, der nach den Umständen sie<lb/> unbrauchbar oder gefährlich macht und dem Staat selbst so bedrohlich ist.<lb/> als die Theorien der französischen Sophisten. Um deswillen war mir so er-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0316]
Sachen so zu sehen wie sie sind) und für die demüthigere Beschäftigung (bei
oft schwachem Lichte die kaum halb hellen Gänge der Geschichte einzelner
Menschen und Völker zu durchwandern) die Lust, wo nicht das Geschick ver¬
lieren. Der wahre Zweck der Geschichte ist die Bildung des Menschen zum
praktischen Leben; sie soll ihn herunterfuhren von den gigantischen Luft¬
schlössern der Spekulation und Phantasie; nicht seine Einbildung, sondern
seinen Verstand und sein Herz beschäftigen; die Welt nicht wie er sie haben
möchte, oder mit Hilfe einiger guten Freunde umzuschaffen hofft, sondern wie
sie war und ist, die Verfassungen nicht nach abstracten Theorien, sondern in
dem Geist ihrer Institutionen und in ihrem Zusammenhang mit Localver-
hältnissen und hundert Umständen, überhaupt was die Philosophie generalisirte,
individualisiren und den Menschen ja nicht lehren, in Hoffnung auf ungewisse
Zukunft und idealisches Glück später Geschlechter die Pflicht zu vergessen,
seine Zeitgenossen glücklich zu machen." Es ist begreiflich, daß Müller bei
diesen Grundsätzen an der Polemik seines Freundes Herder gegen Kant den
lebhaftesten Antheil nahm, aber auch Nicolai dankt er 17. Sept. 1796 auf
das lebhafteste für den warmen Patriotismus in seiner Bekämpfung des
Missbrauchs, „welcher seit einigen Jahren mit der kritischen Philosophie ge¬
trieben wird und uns mit einem Rückfall in Scholastik und Barbarei bedroht.
Während meinem Geschäftsleben zu Mainz hatte ich für Studien zu wenig
Muße, um dem Anfang und Fortgang dieser literarischen Revolution zu
folgen; hier wo ich ungleich besser studire, ist mir begegnet, die empfohlenstcn
Schriften, die ich etwa lesen wollte, gar nicht zu verstehn; es war eine neue
Sprache ausgekommen, ich fand mich wie ein Mann aus dem vorigen Jahr¬
hundert. Zwar meine ich Kant selbst, und etwa Reinhold hin und wieder,
endlich gefaßt zu haben; aber weder kann ich finden, daß des wesentlich
Neuen und Wichtigen so gar viel ist, noch verstehe ich die Anwendung,
welche man von diesen Formeln jetzt auf alles machen will. Ich verstehe
meine eigne Wissenschaft, ich verstehe die Geschichte wie sie nun werden soll
nicht mehr. Aber so unangenehm es mir wird, wieder in die Schule gehn
zu sollen, so wollte ich, wenn die Nothwendigkeit mir einleuchtend wäre, noch
recht gern mich bequemen, wenn ich nicht durch eine mir weit empfindlichere
Bemerkung vollends mißmuthig würde: diese besteht darin, daß vor lauter
Spitzfindigkeit aller Wahrhcissinn sich mehr und mehr verliert. Die nahr¬
hafte Speise, die ich von Jugend auf bei den Alten fand, sehe ich mit lauter
eröme t'ouottv vertauscht, und die voll Wind von den Akademien kommenden
Jünglinge von so verdorbener Verdauungskraft, daß jene ihnen gar un¬
genießbar ist. Sie haben einen Dünkel, der nach den Umständen sie
unbrauchbar oder gefährlich macht und dem Staat selbst so bedrohlich ist.
als die Theorien der französischen Sophisten. Um deswillen war mir so er-
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