Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.Poet oder Idealist zu sein, Bulwer hat einen seiner Romane dem deutschen Kuno Fischer charakterisirt die poetische Entwicklung Schillers von den 37*
Poet oder Idealist zu sein, Bulwer hat einen seiner Romane dem deutschen Kuno Fischer charakterisirt die poetische Entwicklung Schillers von den 37*
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Poet oder Idealist zu sein, Bulwer hat einen seiner Romane dem deutschen
Volk gewidmet, „einem Voll von Denkern und Kritikern"^ Es sind nicht
blos die Ausländer, die so über uns urtheilen, unsere eigenen Schriftsteller
haben es an ähnlichen Klagen nicht fehlen lassen und wenn es auch mancher
mit dem Geständnis;„wir sind allzumal Träumer" so meint wie der Prediger
auf der Kanzel, der sich selber im Stillen ausnimmt, so merkt man doch bei
den meisten Schriftstellern ein geheimes unbehagliches Bewußtsein der Mit¬
schuld heraus. Wenn aber die Dichter, die uns statt lebendiger Gestalten
Traumbilder vorführen, sich dadurch zu rechtfertigen suchen, daß sie nur das
geben können, was ihnen das Volk bietet, so wäre noch vorher festzustellen,
wem der größere Theil dieser Schuld zur Last fällt. Einen Beitrag zur
Lösung dieser Frage finden wir in den genannten beiden Schriften, die wir
unter diesem Gesichtspunkt zusammenstellen.
Kuno Fischer charakterisirt die poetische Entwicklung Schillers von den
Karlschüiern bis zu der Professur in Jena als eine Reihe von Selbstbekennt¬
nissen. In seiner Zeit konnte die Poesie keine andere Richtung haben, die
ganze Empfindungsweise des Geschlechts machte es nothwendig. Die Ueber¬
einstimmung mit der Natur galt als die höchste Aufgabe der Menschheit und
diese Forderung mußte nothwendig zum Widerspruch gegen die überlieferten
Sitten, gegen die geschichtlichen Mächte führen. Aber eine Natur, die alle
positiven Zustünde verleugnet, lebt nur in der Empfindung und Phantasie.
Je mehr der Apostel der Natur seinen Phantasicmenschen liebt, je leidenschaft¬
licher flieht er die wirklichen. Diese Empfindung hatte zuerst Rousseau kräftig
ausgesprochen, von ihm überkam sie Schiller, in seinem jugendlichen Enthu¬
siasmus Rousseaus eifrigster Verehrer. Aber seine Bedeutung für die Cultur¬
geschichte liegt eben darin, daß es ihm in stufenweiser Entwicklung gelang,
die ideale Anschauung mit der wirklichen zu versöhnen. Es ist ihm gelungen,
indem er Schritt vor Schritt seiner Wanderjahre beichtete, die phantasirende
Empfindung, die sich zunächst gegen die Wirklichkeit nur negativ verhält, zu
einer bejahenden poetischen Weltanschauung zu erfüllen. Bei seiner vor¬
wiegend dramatischen Anlage gab er seinen Selbstbekenntnissen sofort eine
dramatische Gestalt, aber in diesen Dramen erscheinen keine wirklichen, von
dem Dichter abgelösten Charaktere, sondern nur die Projectionen seiner eignen
Empfindungsweise. Das was sie wirklich darstellen, ist wesentlich verschieden
von dem, was der Dichter mit ihnen beabsichtigt. So wechselt schon bei
Karl Moor das heroische Pathos fortwährend mit dem idyllischen. Jeder
mächtige Eindruck reißt ihn fort, die Gewalt der augenblicklichen Empfindung
beherrscht ihn unwiderstehlich. Er ist auch in den böhmischen Wäldern der¬
selbe Knabe geblieben, dessen Erinnerungen in ihm wach werden, wie er den
Boden seiner Heimath betritt. Seine Phantasie spielt mit den Bildern fort,
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