Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Krisen der Menschheit haben manchmal die unerwartetste Wendung bekommen;
unvermuthete Dinge können die Waffen, welche man fürchtet, in ihrer Wirkung
aufhalten, ja wider die wenden, welche sie führen. Was anders sind die,
welche alles zu bewegen glauben, als Räder, die nicht allein dahin gehen,
wohin sie wollen, sondern geführt von dem unerforschlichen Geist? Auch wir
wollen über das nicht zu Aendernde getrost sein."

Mit dieser trüben Aussicht, die schneller als Müller glaubte sich in eine
schreckliche Gewißheit verwandelte, schließt das Buch, das unfertig in seinen
Vorarbeiten, höchst mangelhaft in seiner Komposition und nicht ohne innere
Widersprüche in Bezug auf die ideale Auffassung, dennoch einen weit tiefern
Einblick in den Organismus der Geschichte eröffnet als die zahlreichen Versuche
in der Geschichtsphilosophie, die damals auftauchten; ein Buch, das noch heut
ein ernstes Studium verdient.




Gamins Licinicums.

Ks,i lZri-ÄtNi I^icinikrui ^rmirlium 8uper-"unt ex cocliee ehr sorixto musei
Lrit.krnuiei Ixiucliiwll^i" nunc xrinnivi ecliäit, Karolus ^.uz;. I^i'in. Porti?. Lern-
lini. 1857. gr. 4. -- Auch die Philologie erfährt, was überall von verlorenen
Dingen gilt. Wo sie durch Jahrhunderte mit rastloser Aufmerksamkeit suchte, hat
sie nichts gefunden, nicht die verlorenen Bücher des Sallust, Livius, Taeitus; wo
sie dagegen nichts erwartete, warf ihr el" günstiger Gott zuweilen werthvolle Ge¬
schenke zu. So jetzt einen römischen Geschichtschreiber, dessen Namen man kaum
gekannt hatte.

Als Georg Heinrich Pertz mit seinem Sohne Karl im Jahre 1853 für seine
Monumenta Germaniae Handschriften des britischen Museums durchsah, zeigte ihm
Dr. Paul Bötticher, der eben dort syrische Manuscripte benutzte, einen Codex aus
dem 11. Jahrhundert, welcher unter seiner Schrift Spuren einer ältern ausgekratzten
zeigte. Einzelne Namen, das angenehme Wort va-Mauna konnten entziffert werden,
es war etwas von Sulla und einem Priesterthum des Mars zu erkennen. Zugleich
ergab steh, daß der Codex nicht zwei-, sondern dreimal beschrieben war, und daß
unter dem obern Texte zwei andere weggeschabte, aus verschiedenen Zeiten in tausend¬
jährigem Schlummer lagen.

Diese Entdeckung veranlaßte den ältern Pertz im Jahre 1855, den jüngern
im Jahr 1856, den Codex genauer zu untersuchen, nud durch chemische Reagentien
so viel als möglich die Spuren der ältesten Schrift wieder zu erwecken; der Sohn
vollendete endlich die mühevolle Arbeit. Das vorliegende Buch enthält die Resultate,
große Fragmente eines römischen Geschichtschreibers, der älter als Livius ist.

Das britische Museum erwarb die Handschrift vor zwölf Jahren aus einem
Kloster der lybischen Wüste mit etwa fünfhundert andern Mnuuseripteu die Hdsch. ent¬
hielt von einer Hand des 11. Jahrhundert Homilia" des heiligen Chrysostomus in su-


Krisen der Menschheit haben manchmal die unerwartetste Wendung bekommen;
unvermuthete Dinge können die Waffen, welche man fürchtet, in ihrer Wirkung
aufhalten, ja wider die wenden, welche sie führen. Was anders sind die,
welche alles zu bewegen glauben, als Räder, die nicht allein dahin gehen,
wohin sie wollen, sondern geführt von dem unerforschlichen Geist? Auch wir
wollen über das nicht zu Aendernde getrost sein."

Mit dieser trüben Aussicht, die schneller als Müller glaubte sich in eine
schreckliche Gewißheit verwandelte, schließt das Buch, das unfertig in seinen
Vorarbeiten, höchst mangelhaft in seiner Komposition und nicht ohne innere
Widersprüche in Bezug auf die ideale Auffassung, dennoch einen weit tiefern
Einblick in den Organismus der Geschichte eröffnet als die zahlreichen Versuche
in der Geschichtsphilosophie, die damals auftauchten; ein Buch, das noch heut
ein ernstes Studium verdient.




Gamins Licinicums.

Ks,i lZri-ÄtNi I^icinikrui ^rmirlium 8uper-»unt ex cocliee ehr sorixto musei
Lrit.krnuiei Ixiucliiwll^i» nunc xrinnivi ecliäit, Karolus ^.uz;. I^i'in. Porti?. Lern-
lini. 1857. gr. 4. — Auch die Philologie erfährt, was überall von verlorenen
Dingen gilt. Wo sie durch Jahrhunderte mit rastloser Aufmerksamkeit suchte, hat
sie nichts gefunden, nicht die verlorenen Bücher des Sallust, Livius, Taeitus; wo
sie dagegen nichts erwartete, warf ihr el» günstiger Gott zuweilen werthvolle Ge¬
schenke zu. So jetzt einen römischen Geschichtschreiber, dessen Namen man kaum
gekannt hatte.

Als Georg Heinrich Pertz mit seinem Sohne Karl im Jahre 1853 für seine
Monumenta Germaniae Handschriften des britischen Museums durchsah, zeigte ihm
Dr. Paul Bötticher, der eben dort syrische Manuscripte benutzte, einen Codex aus
dem 11. Jahrhundert, welcher unter seiner Schrift Spuren einer ältern ausgekratzten
zeigte. Einzelne Namen, das angenehme Wort va-Mauna konnten entziffert werden,
es war etwas von Sulla und einem Priesterthum des Mars zu erkennen. Zugleich
ergab steh, daß der Codex nicht zwei-, sondern dreimal beschrieben war, und daß
unter dem obern Texte zwei andere weggeschabte, aus verschiedenen Zeiten in tausend¬
jährigem Schlummer lagen.

Diese Entdeckung veranlaßte den ältern Pertz im Jahre 1855, den jüngern
im Jahr 1856, den Codex genauer zu untersuchen, nud durch chemische Reagentien
so viel als möglich die Spuren der ältesten Schrift wieder zu erwecken; der Sohn
vollendete endlich die mühevolle Arbeit. Das vorliegende Buch enthält die Resultate,
große Fragmente eines römischen Geschichtschreibers, der älter als Livius ist.

Das britische Museum erwarb die Handschrift vor zwölf Jahren aus einem
Kloster der lybischen Wüste mit etwa fünfhundert andern Mnuuseripteu die Hdsch. ent¬
hielt von einer Hand des 11. Jahrhundert Homilia» des heiligen Chrysostomus in su-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0284" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186696"/>
            <p xml:id="ID_643" prev="#ID_642"> Krisen der Menschheit haben manchmal die unerwartetste Wendung bekommen;<lb/>
unvermuthete Dinge können die Waffen, welche man fürchtet, in ihrer Wirkung<lb/>
aufhalten, ja wider die wenden, welche sie führen. Was anders sind die,<lb/>
welche alles zu bewegen glauben, als Räder, die nicht allein dahin gehen,<lb/>
wohin sie wollen, sondern geführt von dem unerforschlichen Geist? Auch wir<lb/>
wollen über das nicht zu Aendernde getrost sein."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_644"> Mit dieser trüben Aussicht, die schneller als Müller glaubte sich in eine<lb/>
schreckliche Gewißheit verwandelte, schließt das Buch, das unfertig in seinen<lb/>
Vorarbeiten, höchst mangelhaft in seiner Komposition und nicht ohne innere<lb/>
Widersprüche in Bezug auf die ideale Auffassung, dennoch einen weit tiefern<lb/>
Einblick in den Organismus der Geschichte eröffnet als die zahlreichen Versuche<lb/>
in der Geschichtsphilosophie, die damals auftauchten; ein Buch, das noch heut<lb/>
ein ernstes Studium verdient.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Gamins Licinicums.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_645"> Ks,i lZri-ÄtNi I^icinikrui ^rmirlium 8uper-»unt ex cocliee ehr sorixto musei<lb/>
Lrit.krnuiei Ixiucliiwll^i» nunc xrinnivi ecliäit, Karolus ^.uz;. I^i'in. Porti?. Lern-<lb/>
lini. 1857. gr. 4. &#x2014; Auch die Philologie erfährt, was überall von verlorenen<lb/>
Dingen gilt. Wo sie durch Jahrhunderte mit rastloser Aufmerksamkeit suchte, hat<lb/>
sie nichts gefunden, nicht die verlorenen Bücher des Sallust, Livius, Taeitus; wo<lb/>
sie dagegen nichts erwartete, warf ihr el» günstiger Gott zuweilen werthvolle Ge¬<lb/>
schenke zu. So jetzt einen römischen Geschichtschreiber, dessen Namen man kaum<lb/>
gekannt hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_646"> Als Georg Heinrich Pertz mit seinem Sohne Karl im Jahre 1853 für seine<lb/>
Monumenta Germaniae Handschriften des britischen Museums durchsah, zeigte ihm<lb/>
Dr. Paul Bötticher, der eben dort syrische Manuscripte benutzte, einen Codex aus<lb/>
dem 11. Jahrhundert, welcher unter seiner Schrift Spuren einer ältern ausgekratzten<lb/>
zeigte. Einzelne Namen, das angenehme Wort va-Mauna konnten entziffert werden,<lb/>
es war etwas von Sulla und einem Priesterthum des Mars zu erkennen. Zugleich<lb/>
ergab steh, daß der Codex nicht zwei-, sondern dreimal beschrieben war, und daß<lb/>
unter dem obern Texte zwei andere weggeschabte, aus verschiedenen Zeiten in tausend¬<lb/>
jährigem Schlummer lagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_647"> Diese Entdeckung veranlaßte den ältern Pertz im Jahre 1855, den jüngern<lb/>
im Jahr 1856, den Codex genauer zu untersuchen, nud durch chemische Reagentien<lb/>
so viel als möglich die Spuren der ältesten Schrift wieder zu erwecken; der Sohn<lb/>
vollendete endlich die mühevolle Arbeit. Das vorliegende Buch enthält die Resultate,<lb/>
große Fragmente eines römischen Geschichtschreibers, der älter als Livius ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_648" next="#ID_649"> Das britische Museum erwarb die Handschrift vor zwölf Jahren aus einem<lb/>
Kloster der lybischen Wüste mit etwa fünfhundert andern Mnuuseripteu die Hdsch. ent¬<lb/>
hielt von einer Hand des 11. Jahrhundert Homilia» des heiligen Chrysostomus in su-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0284] Krisen der Menschheit haben manchmal die unerwartetste Wendung bekommen; unvermuthete Dinge können die Waffen, welche man fürchtet, in ihrer Wirkung aufhalten, ja wider die wenden, welche sie führen. Was anders sind die, welche alles zu bewegen glauben, als Räder, die nicht allein dahin gehen, wohin sie wollen, sondern geführt von dem unerforschlichen Geist? Auch wir wollen über das nicht zu Aendernde getrost sein." Mit dieser trüben Aussicht, die schneller als Müller glaubte sich in eine schreckliche Gewißheit verwandelte, schließt das Buch, das unfertig in seinen Vorarbeiten, höchst mangelhaft in seiner Komposition und nicht ohne innere Widersprüche in Bezug auf die ideale Auffassung, dennoch einen weit tiefern Einblick in den Organismus der Geschichte eröffnet als die zahlreichen Versuche in der Geschichtsphilosophie, die damals auftauchten; ein Buch, das noch heut ein ernstes Studium verdient. Gamins Licinicums. Ks,i lZri-ÄtNi I^icinikrui ^rmirlium 8uper-»unt ex cocliee ehr sorixto musei Lrit.krnuiei Ixiucliiwll^i» nunc xrinnivi ecliäit, Karolus ^.uz;. I^i'in. Porti?. Lern- lini. 1857. gr. 4. — Auch die Philologie erfährt, was überall von verlorenen Dingen gilt. Wo sie durch Jahrhunderte mit rastloser Aufmerksamkeit suchte, hat sie nichts gefunden, nicht die verlorenen Bücher des Sallust, Livius, Taeitus; wo sie dagegen nichts erwartete, warf ihr el» günstiger Gott zuweilen werthvolle Ge¬ schenke zu. So jetzt einen römischen Geschichtschreiber, dessen Namen man kaum gekannt hatte. Als Georg Heinrich Pertz mit seinem Sohne Karl im Jahre 1853 für seine Monumenta Germaniae Handschriften des britischen Museums durchsah, zeigte ihm Dr. Paul Bötticher, der eben dort syrische Manuscripte benutzte, einen Codex aus dem 11. Jahrhundert, welcher unter seiner Schrift Spuren einer ältern ausgekratzten zeigte. Einzelne Namen, das angenehme Wort va-Mauna konnten entziffert werden, es war etwas von Sulla und einem Priesterthum des Mars zu erkennen. Zugleich ergab steh, daß der Codex nicht zwei-, sondern dreimal beschrieben war, und daß unter dem obern Texte zwei andere weggeschabte, aus verschiedenen Zeiten in tausend¬ jährigem Schlummer lagen. Diese Entdeckung veranlaßte den ältern Pertz im Jahre 1855, den jüngern im Jahr 1856, den Codex genauer zu untersuchen, nud durch chemische Reagentien so viel als möglich die Spuren der ältesten Schrift wieder zu erwecken; der Sohn vollendete endlich die mühevolle Arbeit. Das vorliegende Buch enthält die Resultate, große Fragmente eines römischen Geschichtschreibers, der älter als Livius ist. Das britische Museum erwarb die Handschrift vor zwölf Jahren aus einem Kloster der lybischen Wüste mit etwa fünfhundert andern Mnuuseripteu die Hdsch. ent¬ hielt von einer Hand des 11. Jahrhundert Homilia» des heiligen Chrysostomus in su-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/284
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/284>, abgerufen am 21.12.2024.