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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Orient waren Gesetzgeber und Helden durch sie begünstigt worden. Bei uns
wirkten sie auf Cultur und Ordnung. In Europa war mehr Kunst und Be¬
harrlichkeit in Planen; im Orient eine augenblicklich alles umwerfende Kraft.
Dadurch blieb dauerhafte Oberhand aus; und je gesitteter und aufgeklärter
ein europäisches, um so mächtiger wurde es.

Die Unruhen, welche gegen das Ende des 'Mittelalters in dem Mutter¬
lande der Cultur in Italien ausbrachen, irren ihn nicht. Aus dem Schoße
dieser Unruhen brach das Licht der Wissenschaft hervor, und erhoben sich Tu¬
genden wie bei den alten Griechen und Römern. Gleich wie das Leben der
Natur durch Wirkung und Gegenwirkung entgegenarbeitender Kräfte besteht,
gleich wie die Religion die ewige Ruhe nicht hier gibt, sondern zu Kämpfen
des Lebens stärkt, so bedarf der menschliche Geist großer Durchschütterungen,
um zurückgekehrt in sich die von Gott in uns gelegte Kraft auszurufen, daß
sie sich entwickele und erhebe. -- Es ist begreiflich, daß in der Periode, mit
welcher die Schweizergeschichte beginnt, die Aufmerksamkeit des Geschicht¬
schreibers hauptsächlich aus die damit zusammenhängenden Länder gerichtet ist.
Zwar verliert er keinen Augenblick irgend einen Punkt des Universums aus
den Augen, aber er berichtet von den entlegenen Gegenden doch nur, wie
man Nachrichten aus der Fremde empfängt. Im Burgundischeu dagegen, in
Savoyen. in Oberitalien, im südlichen Deutschland, in Oestreich ist er zu Hause.
Hier fehlt es auch an ganz localen Notizen nicht. Während er für die Ent¬
wicklung der britischen Staatsverfassung von Jugend auf die größte Borliebe
gehegt, behandelt er sie hier doch nur summarisch, desto ausführlicher die
venetianische. deren Lichtseiten sich ihm diesmal sehr lebhaft aufdrängen. Im
Ganzen erlahmt das Interesse bis zur Periode der Reformation. -- Als Spa¬
nien, Neapolis. Sizilien, Oestreich, Burgund, die Krone des deutschen Reichs,
Meziw und Peru und bald auch Böhmen und Ungarn im Hause Habsburg
vereinigt worden waren, retteten zwei Männer die sogenannte europäische Frei¬
heit. Man versteht unter dieser Freiheit die Coezistenz mehrer Staaten, deren
jeder seine eignen Gesetze und Sitten haben, und denjenigen, welche das
Schicksal unter einer Regierung verfolgt, eine sichere Freistätte unter vielen
andern öffne. Dadurch geschieht, daß die Fürsten nicht gar so viel wagen,
als sie könnten, und nicht ganz so wie die asiatischen Despoten der Sorg'
losigkeit sich überlassen dürfen , sondern die Wirkung und Gegenwirkung von
mancherlei Interessen in Europa ein gewisses Leben unterhält. -- Diese beiden
Männer waren der König von Frankreich und Luther; eine Zusammenstellung,
die für Müller charakteristisch ist. In derselben Zeit, wo ziemlich allgemein
die Ueberzeugung sich verbreitete, daß die Glaubenstrennung für Deutschland
ein Unglück gewesen sei. erklärt sie Müller für eine Förderung der deutschen
Freiheit. Man sieht, wie ihm die Gedanken und die Verbindungen derselben


Mcnzlwtm II. 1658. 35

Orient waren Gesetzgeber und Helden durch sie begünstigt worden. Bei uns
wirkten sie auf Cultur und Ordnung. In Europa war mehr Kunst und Be¬
harrlichkeit in Planen; im Orient eine augenblicklich alles umwerfende Kraft.
Dadurch blieb dauerhafte Oberhand aus; und je gesitteter und aufgeklärter
ein europäisches, um so mächtiger wurde es.

Die Unruhen, welche gegen das Ende des 'Mittelalters in dem Mutter¬
lande der Cultur in Italien ausbrachen, irren ihn nicht. Aus dem Schoße
dieser Unruhen brach das Licht der Wissenschaft hervor, und erhoben sich Tu¬
genden wie bei den alten Griechen und Römern. Gleich wie das Leben der
Natur durch Wirkung und Gegenwirkung entgegenarbeitender Kräfte besteht,
gleich wie die Religion die ewige Ruhe nicht hier gibt, sondern zu Kämpfen
des Lebens stärkt, so bedarf der menschliche Geist großer Durchschütterungen,
um zurückgekehrt in sich die von Gott in uns gelegte Kraft auszurufen, daß
sie sich entwickele und erhebe. — Es ist begreiflich, daß in der Periode, mit
welcher die Schweizergeschichte beginnt, die Aufmerksamkeit des Geschicht¬
schreibers hauptsächlich aus die damit zusammenhängenden Länder gerichtet ist.
Zwar verliert er keinen Augenblick irgend einen Punkt des Universums aus
den Augen, aber er berichtet von den entlegenen Gegenden doch nur, wie
man Nachrichten aus der Fremde empfängt. Im Burgundischeu dagegen, in
Savoyen. in Oberitalien, im südlichen Deutschland, in Oestreich ist er zu Hause.
Hier fehlt es auch an ganz localen Notizen nicht. Während er für die Ent¬
wicklung der britischen Staatsverfassung von Jugend auf die größte Borliebe
gehegt, behandelt er sie hier doch nur summarisch, desto ausführlicher die
venetianische. deren Lichtseiten sich ihm diesmal sehr lebhaft aufdrängen. Im
Ganzen erlahmt das Interesse bis zur Periode der Reformation. — Als Spa¬
nien, Neapolis. Sizilien, Oestreich, Burgund, die Krone des deutschen Reichs,
Meziw und Peru und bald auch Böhmen und Ungarn im Hause Habsburg
vereinigt worden waren, retteten zwei Männer die sogenannte europäische Frei¬
heit. Man versteht unter dieser Freiheit die Coezistenz mehrer Staaten, deren
jeder seine eignen Gesetze und Sitten haben, und denjenigen, welche das
Schicksal unter einer Regierung verfolgt, eine sichere Freistätte unter vielen
andern öffne. Dadurch geschieht, daß die Fürsten nicht gar so viel wagen,
als sie könnten, und nicht ganz so wie die asiatischen Despoten der Sorg'
losigkeit sich überlassen dürfen , sondern die Wirkung und Gegenwirkung von
mancherlei Interessen in Europa ein gewisses Leben unterhält. — Diese beiden
Männer waren der König von Frankreich und Luther; eine Zusammenstellung,
die für Müller charakteristisch ist. In derselben Zeit, wo ziemlich allgemein
die Ueberzeugung sich verbreitete, daß die Glaubenstrennung für Deutschland
ein Unglück gewesen sei. erklärt sie Müller für eine Förderung der deutschen
Freiheit. Man sieht, wie ihm die Gedanken und die Verbindungen derselben


Mcnzlwtm II. 1658. 35
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/281>, abgerufen am 30.12.2024.