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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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stehender Sätze und Bestimmungen, deren Grundveste Mißverstand war; wo¬
durch der Glaube, der durch die leitende Vorsehung für zwei oder drei wich¬
tige Sätze von Zeit zu Zeit erneuert worden, an eine unendliche Menge Ob-
servanzen und Subtilitäten gefordert und ein Joch wurde, das in Verbin¬
dung mit der politischen Lage des Reichs und mit dem Verfall der Literatur
nickt wenig zu Erniedrigung des Geistes und Herbeiführung langer Barbarei
wirkte. So wurde das Wert Jesu durch die Meuschen verdorben. Jedoch
wie keine Weltbegebenheit ohne zweckmäßiges Verhältniß zum Ganzen bleibt,
so trug sich zu, daß ohne Wissen der Urheber auch die Hierarchie eine Zeit¬
lang zum öffentlichen Besten wirkte. Als die wilden Krieger aus Norden das
unaushaltbar fallende Reich zerstörten, würde Europa geworden sein, was
die asiatischen Länder unter den Türken, wenn nicht jene ein in voller Kraft
aufsprossender Größe stehendes, durch Heiligkeit imponirendes Corps im römischen
Reich angetroffen hätten, welches auf ihre rohen Geister freilich nicht mit
Liebeslchrcn und feiner Humanität wirken konnte, aber mit der Zuchtruthe
des Kirchenbanns, dem Teufel und seinen Engeln, den Schrecknissen des höl¬
lischen Feuers unsere erschrockenen Väter im Zaum zu halten wußte. Hier¬
durch gelehriger, wurden sie reinerm Licht, wozu die Geistlichkeit aus dem
Alterthum deu Zunder hinübergerettet hatte, zuletzt empfänglich; durch eine
Form von Religion fähig, nach und nach die Religion selber zu erkennen,
und mittelst dieser Erziehung endlich den Alten gleich zu werden, ja in vielem
sich über sie empor zu schwingen.*) Der Mensch im Ganzen ist Werkzeug der
unsichtbaren Hand.

Man sieht, daß die mystische Periode vorüber war. Lavater wurde
wieder durch Herder verdrängt, die specielle christliche Offenbarung durch eine
fortgesetzte Weitoffenbarung. "Mein Gesichtspunkt wird immer umfassender,
vereinender und ich überzeuge mich, daß Gott keinem einzigen Volk sich un-
bezeugt gelassen. sondern jedem gegeben, was (nach seiner Art) für sein Heil
nothwendig ist." (ni. Den. 1795) "Windig sieht es freilich aus mit dem alten
Körper, den man Dogmatik nennt; die Seele aber, die Religion wird, wenn
jener fällt, sich freier und schöner emporschwingen; das däucht mir so. Die
christliche Religion ist so erstaunlich einfach, daß man sie an sich fast gar nicht



") Die Culturzustände der Provinzen, als das römische Reich allmälig zerfiel und die
Sitten der angrenzenden barbarischen Volker sind zwar nicht in systematischer Vollständigkeit,
aber mit einer Farbe dargestellt, die sich dem Gedächtniß einprägt. Hier thut die Mosaik-
arbeit weniger Schaden, es genügt, einzelne Momente streng nach den Quellen zu porträtiren,
um ein überraschendes Schlaglicht auf die allgemeine Cultur zu werfen. Die Phantasie setzt
sich ans einzelnen bestimmt ausgemalten Zügen viel eher ein Bild zusammen, als aus einem
System allgemeiner Reflexion. Selbst die verschiedenen Stämme der Deutschen gewinnen eine
kenntliche Physiognomie.

stehender Sätze und Bestimmungen, deren Grundveste Mißverstand war; wo¬
durch der Glaube, der durch die leitende Vorsehung für zwei oder drei wich¬
tige Sätze von Zeit zu Zeit erneuert worden, an eine unendliche Menge Ob-
servanzen und Subtilitäten gefordert und ein Joch wurde, das in Verbin¬
dung mit der politischen Lage des Reichs und mit dem Verfall der Literatur
nickt wenig zu Erniedrigung des Geistes und Herbeiführung langer Barbarei
wirkte. So wurde das Wert Jesu durch die Meuschen verdorben. Jedoch
wie keine Weltbegebenheit ohne zweckmäßiges Verhältniß zum Ganzen bleibt,
so trug sich zu, daß ohne Wissen der Urheber auch die Hierarchie eine Zeit¬
lang zum öffentlichen Besten wirkte. Als die wilden Krieger aus Norden das
unaushaltbar fallende Reich zerstörten, würde Europa geworden sein, was
die asiatischen Länder unter den Türken, wenn nicht jene ein in voller Kraft
aufsprossender Größe stehendes, durch Heiligkeit imponirendes Corps im römischen
Reich angetroffen hätten, welches auf ihre rohen Geister freilich nicht mit
Liebeslchrcn und feiner Humanität wirken konnte, aber mit der Zuchtruthe
des Kirchenbanns, dem Teufel und seinen Engeln, den Schrecknissen des höl¬
lischen Feuers unsere erschrockenen Väter im Zaum zu halten wußte. Hier¬
durch gelehriger, wurden sie reinerm Licht, wozu die Geistlichkeit aus dem
Alterthum deu Zunder hinübergerettet hatte, zuletzt empfänglich; durch eine
Form von Religion fähig, nach und nach die Religion selber zu erkennen,
und mittelst dieser Erziehung endlich den Alten gleich zu werden, ja in vielem
sich über sie empor zu schwingen.*) Der Mensch im Ganzen ist Werkzeug der
unsichtbaren Hand.

Man sieht, daß die mystische Periode vorüber war. Lavater wurde
wieder durch Herder verdrängt, die specielle christliche Offenbarung durch eine
fortgesetzte Weitoffenbarung. „Mein Gesichtspunkt wird immer umfassender,
vereinender und ich überzeuge mich, daß Gott keinem einzigen Volk sich un-
bezeugt gelassen. sondern jedem gegeben, was (nach seiner Art) für sein Heil
nothwendig ist." (ni. Den. 1795) „Windig sieht es freilich aus mit dem alten
Körper, den man Dogmatik nennt; die Seele aber, die Religion wird, wenn
jener fällt, sich freier und schöner emporschwingen; das däucht mir so. Die
christliche Religion ist so erstaunlich einfach, daß man sie an sich fast gar nicht



") Die Culturzustände der Provinzen, als das römische Reich allmälig zerfiel und die
Sitten der angrenzenden barbarischen Volker sind zwar nicht in systematischer Vollständigkeit,
aber mit einer Farbe dargestellt, die sich dem Gedächtniß einprägt. Hier thut die Mosaik-
arbeit weniger Schaden, es genügt, einzelne Momente streng nach den Quellen zu porträtiren,
um ein überraschendes Schlaglicht auf die allgemeine Cultur zu werfen. Die Phantasie setzt
sich ans einzelnen bestimmt ausgemalten Zügen viel eher ein Bild zusammen, als aus einem
System allgemeiner Reflexion. Selbst die verschiedenen Stämme der Deutschen gewinnen eine
kenntliche Physiognomie.
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[0278] stehender Sätze und Bestimmungen, deren Grundveste Mißverstand war; wo¬ durch der Glaube, der durch die leitende Vorsehung für zwei oder drei wich¬ tige Sätze von Zeit zu Zeit erneuert worden, an eine unendliche Menge Ob- servanzen und Subtilitäten gefordert und ein Joch wurde, das in Verbin¬ dung mit der politischen Lage des Reichs und mit dem Verfall der Literatur nickt wenig zu Erniedrigung des Geistes und Herbeiführung langer Barbarei wirkte. So wurde das Wert Jesu durch die Meuschen verdorben. Jedoch wie keine Weltbegebenheit ohne zweckmäßiges Verhältniß zum Ganzen bleibt, so trug sich zu, daß ohne Wissen der Urheber auch die Hierarchie eine Zeit¬ lang zum öffentlichen Besten wirkte. Als die wilden Krieger aus Norden das unaushaltbar fallende Reich zerstörten, würde Europa geworden sein, was die asiatischen Länder unter den Türken, wenn nicht jene ein in voller Kraft aufsprossender Größe stehendes, durch Heiligkeit imponirendes Corps im römischen Reich angetroffen hätten, welches auf ihre rohen Geister freilich nicht mit Liebeslchrcn und feiner Humanität wirken konnte, aber mit der Zuchtruthe des Kirchenbanns, dem Teufel und seinen Engeln, den Schrecknissen des höl¬ lischen Feuers unsere erschrockenen Väter im Zaum zu halten wußte. Hier¬ durch gelehriger, wurden sie reinerm Licht, wozu die Geistlichkeit aus dem Alterthum deu Zunder hinübergerettet hatte, zuletzt empfänglich; durch eine Form von Religion fähig, nach und nach die Religion selber zu erkennen, und mittelst dieser Erziehung endlich den Alten gleich zu werden, ja in vielem sich über sie empor zu schwingen.*) Der Mensch im Ganzen ist Werkzeug der unsichtbaren Hand. Man sieht, daß die mystische Periode vorüber war. Lavater wurde wieder durch Herder verdrängt, die specielle christliche Offenbarung durch eine fortgesetzte Weitoffenbarung. „Mein Gesichtspunkt wird immer umfassender, vereinender und ich überzeuge mich, daß Gott keinem einzigen Volk sich un- bezeugt gelassen. sondern jedem gegeben, was (nach seiner Art) für sein Heil nothwendig ist." (ni. Den. 1795) „Windig sieht es freilich aus mit dem alten Körper, den man Dogmatik nennt; die Seele aber, die Religion wird, wenn jener fällt, sich freier und schöner emporschwingen; das däucht mir so. Die christliche Religion ist so erstaunlich einfach, daß man sie an sich fast gar nicht ") Die Culturzustände der Provinzen, als das römische Reich allmälig zerfiel und die Sitten der angrenzenden barbarischen Volker sind zwar nicht in systematischer Vollständigkeit, aber mit einer Farbe dargestellt, die sich dem Gedächtniß einprägt. Hier thut die Mosaik- arbeit weniger Schaden, es genügt, einzelne Momente streng nach den Quellen zu porträtiren, um ein überraschendes Schlaglicht auf die allgemeine Cultur zu werfen. Die Phantasie setzt sich ans einzelnen bestimmt ausgemalten Zügen viel eher ein Bild zusammen, als aus einem System allgemeiner Reflexion. Selbst die verschiedenen Stämme der Deutschen gewinnen eine kenntliche Physiognomie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/278>, abgerufen am 30.12.2024.