Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.gewöhnlichen durch die Erfahrung der letzten zehn Jahre bekannten Symptome Am traurigsten aber und am verhängnißvollsten anch für uns ist die Lage gewöhnlichen durch die Erfahrung der letzten zehn Jahre bekannten Symptome Am traurigsten aber und am verhängnißvollsten anch für uns ist die Lage <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186676"/> <p xml:id="ID_610" prev="#ID_609"> gewöhnlichen durch die Erfahrung der letzten zehn Jahre bekannten Symptome<lb/> nicht trügen, so zieht sich auch dort so sicher ein neues Unwetter zusammen,<lb/> wie nach einem schwülen Tage die Wollen am Himmel sich zusammenballen.<lb/> Die Landschaften aber, in denen sich das Wetter zu entladen droht, sind<lb/> Neapel und der Kirchenstaat. Die UnPopularität der neapolitanischen Negie¬<lb/> rung beruht zum größten Theile auf der Schlechtigkeit ihres Beamteusiandes<lb/> und dem dadurch verewigten Mißregiment. Daß Administration, Justiz und<lb/> Volksunterricht jämmerlich darniederliegen, ist allgemeine und alte Klage.<lb/> Die Regierung aber hat nicht die Kraft, hundertjährige Versunkenheit zu<lb/> bessern, ja sie kann nicht einmal den Versuch machen, diesem innern Verfall<lb/> gründlich entgegenzuarbeiten. Denn das erste und einzige Mittel wäre eine<lb/> bessere Bildung der Beamten und der Regierten, und jeder Unterricht, alles<lb/> Wissen ist in Neapel ein Gehilfe feindlicher Mächte. Je geläufiger die Nea¬<lb/> politaner lesen und schreiben lernen, desto zahlreicher werden die Anhänger<lb/> des italienischen Einheitsstaats und die Schreier nach einer Republik. Mit<lb/> Grund haben die Minister in Neapel die Ansicht, daß Dorfschulen den Nea¬<lb/> politaner nur zum Verschwörer machen würden und zum schlechten Christen,<lb/> d. h. zu einem Manne, der die-zahlreiche und unwissende Geistlichkeit, immer<lb/> noch die treueste Stütze der Negierung, verachtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_611" next="#ID_612"> Am traurigsten aber und am verhängnißvollsten anch für uns ist die Lage<lb/> des Kirchenstaats. Daß die ländliche Production nicht zunimmt, sondern jähr¬<lb/> lich abnimmt, daß die Bevölkerung der Provinzialstädte verkommen und ge¬<lb/> drückt ist, daß die äußern Machtverhältnisse des Staates immer kläglicher<lb/> werden, daß die Administration durch Geistliche noch schlechtere Resultate gibt,<lb/> als die der neapolitanischen Beamten, daß das Land nur durch fremde Trup¬<lb/> pen im Gehorsam zu halten ist, — das alles würde den Marasmus des Grei-<lb/> senalters, welchem der Kirchenstaat verfällt, noch nicht so fortgeschritten<lb/> zeigen, als ein anderes, fast das letzte Symptom des Verfalls! die Abnahme<lb/> der Intelligenz selbst unter der regierenden geistlichen Aristokratie. Das Leben<lb/> eines durch Aristokraten regierten Staates kann lange siechen und die Olig-<lb/> archen können politischen Einfluß und Geltung durch ihre Persönlichkeit<lb/> immer noch erhalten. So war es im vorigen Jahrhundert in Venedig, so<lb/> in den aristokratischen Republiken der Schweiz. Jetzt aber scheint für Rom<lb/> der Zeitpunkt eingetreten, wo seine regierende Aristokratie nicht mehr versteht,<lb/> ihren Kampf mit feindlicher Bildung und mit feindlichen politischen Inter¬<lb/> essen zu übersehen. Seit dem Tode Majos ist unter den Cardinälen keiner,<lb/> dem mit nur erträglichem Anstand die Leitung der berühmten Bibliothek des<lb/> Vaticans übergeben werden kann, und doch würden von ihm keine größeren<lb/> Kenntnisse verlangt werden, als der Ordinarius einer der obern Gymnasial-<lb/> classen aus einem deutschen Gymnasium haben soll. Den Ruhm diploma-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0264]
gewöhnlichen durch die Erfahrung der letzten zehn Jahre bekannten Symptome
nicht trügen, so zieht sich auch dort so sicher ein neues Unwetter zusammen,
wie nach einem schwülen Tage die Wollen am Himmel sich zusammenballen.
Die Landschaften aber, in denen sich das Wetter zu entladen droht, sind
Neapel und der Kirchenstaat. Die UnPopularität der neapolitanischen Negie¬
rung beruht zum größten Theile auf der Schlechtigkeit ihres Beamteusiandes
und dem dadurch verewigten Mißregiment. Daß Administration, Justiz und
Volksunterricht jämmerlich darniederliegen, ist allgemeine und alte Klage.
Die Regierung aber hat nicht die Kraft, hundertjährige Versunkenheit zu
bessern, ja sie kann nicht einmal den Versuch machen, diesem innern Verfall
gründlich entgegenzuarbeiten. Denn das erste und einzige Mittel wäre eine
bessere Bildung der Beamten und der Regierten, und jeder Unterricht, alles
Wissen ist in Neapel ein Gehilfe feindlicher Mächte. Je geläufiger die Nea¬
politaner lesen und schreiben lernen, desto zahlreicher werden die Anhänger
des italienischen Einheitsstaats und die Schreier nach einer Republik. Mit
Grund haben die Minister in Neapel die Ansicht, daß Dorfschulen den Nea¬
politaner nur zum Verschwörer machen würden und zum schlechten Christen,
d. h. zu einem Manne, der die-zahlreiche und unwissende Geistlichkeit, immer
noch die treueste Stütze der Negierung, verachtet.
Am traurigsten aber und am verhängnißvollsten anch für uns ist die Lage
des Kirchenstaats. Daß die ländliche Production nicht zunimmt, sondern jähr¬
lich abnimmt, daß die Bevölkerung der Provinzialstädte verkommen und ge¬
drückt ist, daß die äußern Machtverhältnisse des Staates immer kläglicher
werden, daß die Administration durch Geistliche noch schlechtere Resultate gibt,
als die der neapolitanischen Beamten, daß das Land nur durch fremde Trup¬
pen im Gehorsam zu halten ist, — das alles würde den Marasmus des Grei-
senalters, welchem der Kirchenstaat verfällt, noch nicht so fortgeschritten
zeigen, als ein anderes, fast das letzte Symptom des Verfalls! die Abnahme
der Intelligenz selbst unter der regierenden geistlichen Aristokratie. Das Leben
eines durch Aristokraten regierten Staates kann lange siechen und die Olig-
archen können politischen Einfluß und Geltung durch ihre Persönlichkeit
immer noch erhalten. So war es im vorigen Jahrhundert in Venedig, so
in den aristokratischen Republiken der Schweiz. Jetzt aber scheint für Rom
der Zeitpunkt eingetreten, wo seine regierende Aristokratie nicht mehr versteht,
ihren Kampf mit feindlicher Bildung und mit feindlichen politischen Inter¬
essen zu übersehen. Seit dem Tode Majos ist unter den Cardinälen keiner,
dem mit nur erträglichem Anstand die Leitung der berühmten Bibliothek des
Vaticans übergeben werden kann, und doch würden von ihm keine größeren
Kenntnisse verlangt werden, als der Ordinarius einer der obern Gymnasial-
classen aus einem deutschen Gymnasium haben soll. Den Ruhm diploma-
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