Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.dieselbe nicht schon dem an das Kunstwerk herangebrachten Stoffe anklebt, 31*
dieselbe nicht schon dem an das Kunstwerk herangebrachten Stoffe anklebt, 31*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186663"/> <p xml:id="ID_565" prev="#ID_564" next="#ID_566"> dieselbe nicht schon dem an das Kunstwerk herangebrachten Stoffe anklebt,<lb/> oder ob es wirklich aus den Formen desselben mit schlagender Nothwendig¬<lb/> keit geschaut werde, genügt es zu wissen, daß das Motiv einem großen dich¬<lb/> terischen Werke entlehnt sei, um die Ueberzeugung zu wecken, daß auch alle<lb/> Vorzüge des letzteren der malerischen Reproduktion einverleibt wurden. Dies<lb/> soll nicht gesagt sein, um Scheffers Verdienste vorurthcilsvoll herabzusetzen,<lb/> sondern nur um zu zeigen, wie sehr die Anerkennung eines Künstlers von<lb/> äußerlichen, zufälligen Umständen abhängt. Hätte Scheffer mit allem Auf¬<lb/> wand an feinsinniger psychologischer Charakteristik und warmer Empfindung<lb/> ein namenloses Mädchen geschildert, das zum ersten Male von der leisen Ahnung<lb/> der Schuld beschlichen und aus ihrem seligen, Gott und die Welt vergessenden<lb/> Liebesgenusse aufgerüttelt wird, so hätte diese ungleich schwierigere Kunst-<lb/> schöpfung gewiß nicht großes Aufsehen erregt, und wäre als sogenanntes<lb/> Genrebild nur eines flüchtigen Blickes werth befunden wurden. Und doch<lb/> muß man gestehen, daß es eine größere That ist, in namenlose Figuren, an<lb/> welche niemand mit dem Vorurtheil, daß sie Großes bedeuten müssen, her¬<lb/> antritt, Leben, klare Gedanken und tiefe, unmittelbar ansprechende Empfindun¬<lb/> gen hineinzuarbeiten, als Gestalten zu reproduciren. welche für die Beschauer<lb/> sofort einen symbolischen Werth erhalten. Wird durch einige wenige äußer¬<lb/> liche Züge in ihm die Erinnerung an einen längst als groß bekannten oder<lb/> liebgewonnenen Charakter hervorgerufen, so windet er selbständig den ganzen<lb/> weiteren Knäuel von Vorstellungen ab, ohne zu fragen oder auch bestimmen<lb/> zu können, wie viele dieser Vorstellungen das Bild angeregt, oder wie viele<lb/> er in dasselbe hineingetragen habe. Ein Interdikt ans die malerische Ver¬<lb/> körperung vom Dichter bereits ausgearbeiteter Gestalten und Situationen zu<lb/> legen, kann natürlich keinem Unbefangenen in den Sinn kommen. Aber er¬<lb/> freulich ist die täglich mehr überhandnehmende Sitte, bei großen oder kleinen<lb/> Dichtern die bis in das Einzelste ausgemalten Situationen und Motive zu<lb/> borgen, keineswegs, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Maler ganz<lb/> unwillkürlich verleitet wird, statt den Gegenstand innerlich durchzuarbeiten und<lb/> ausschließlich auf sein Forintalcut zu vertrauen, sich mit einer elementaren<lb/> Ausdrucksweise zu begnügen. Es geht ihm wie dem Beschauer. Der Stoff<lb/> liegt viel zu fertig und vollendet geformt ihm vor, als daß er nicht unmerk¬<lb/> lich in eine an diesem Orte ganz und gar verdammenswcrthe Symbolik ver¬<lb/> siele und mit bloßen Andeutungen und einer rein äußerlichen Charakteristik<lb/> steh begnügte. Man kann diese Wahrnehmung auch an des gefeierten<lb/> französischen Meisters letzten Werken machen. Wer den ganzen Vorrath<lb/> Goethescher Gedanken schon mitbringt, für dessen Auge existiren allerdings<lb/> die Gestalten als Gretchen und Faust. Wer aber ohne diese vorgefaßte<lb/> Meinung an die Betrachtung der Bilder schreitet, muß bekennen, daß die</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 31*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0251]
dieselbe nicht schon dem an das Kunstwerk herangebrachten Stoffe anklebt,
oder ob es wirklich aus den Formen desselben mit schlagender Nothwendig¬
keit geschaut werde, genügt es zu wissen, daß das Motiv einem großen dich¬
terischen Werke entlehnt sei, um die Ueberzeugung zu wecken, daß auch alle
Vorzüge des letzteren der malerischen Reproduktion einverleibt wurden. Dies
soll nicht gesagt sein, um Scheffers Verdienste vorurthcilsvoll herabzusetzen,
sondern nur um zu zeigen, wie sehr die Anerkennung eines Künstlers von
äußerlichen, zufälligen Umständen abhängt. Hätte Scheffer mit allem Auf¬
wand an feinsinniger psychologischer Charakteristik und warmer Empfindung
ein namenloses Mädchen geschildert, das zum ersten Male von der leisen Ahnung
der Schuld beschlichen und aus ihrem seligen, Gott und die Welt vergessenden
Liebesgenusse aufgerüttelt wird, so hätte diese ungleich schwierigere Kunst-
schöpfung gewiß nicht großes Aufsehen erregt, und wäre als sogenanntes
Genrebild nur eines flüchtigen Blickes werth befunden wurden. Und doch
muß man gestehen, daß es eine größere That ist, in namenlose Figuren, an
welche niemand mit dem Vorurtheil, daß sie Großes bedeuten müssen, her¬
antritt, Leben, klare Gedanken und tiefe, unmittelbar ansprechende Empfindun¬
gen hineinzuarbeiten, als Gestalten zu reproduciren. welche für die Beschauer
sofort einen symbolischen Werth erhalten. Wird durch einige wenige äußer¬
liche Züge in ihm die Erinnerung an einen längst als groß bekannten oder
liebgewonnenen Charakter hervorgerufen, so windet er selbständig den ganzen
weiteren Knäuel von Vorstellungen ab, ohne zu fragen oder auch bestimmen
zu können, wie viele dieser Vorstellungen das Bild angeregt, oder wie viele
er in dasselbe hineingetragen habe. Ein Interdikt ans die malerische Ver¬
körperung vom Dichter bereits ausgearbeiteter Gestalten und Situationen zu
legen, kann natürlich keinem Unbefangenen in den Sinn kommen. Aber er¬
freulich ist die täglich mehr überhandnehmende Sitte, bei großen oder kleinen
Dichtern die bis in das Einzelste ausgemalten Situationen und Motive zu
borgen, keineswegs, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Maler ganz
unwillkürlich verleitet wird, statt den Gegenstand innerlich durchzuarbeiten und
ausschließlich auf sein Forintalcut zu vertrauen, sich mit einer elementaren
Ausdrucksweise zu begnügen. Es geht ihm wie dem Beschauer. Der Stoff
liegt viel zu fertig und vollendet geformt ihm vor, als daß er nicht unmerk¬
lich in eine an diesem Orte ganz und gar verdammenswcrthe Symbolik ver¬
siele und mit bloßen Andeutungen und einer rein äußerlichen Charakteristik
steh begnügte. Man kann diese Wahrnehmung auch an des gefeierten
französischen Meisters letzten Werken machen. Wer den ganzen Vorrath
Goethescher Gedanken schon mitbringt, für dessen Auge existiren allerdings
die Gestalten als Gretchen und Faust. Wer aber ohne diese vorgefaßte
Meinung an die Betrachtung der Bilder schreitet, muß bekennen, daß die
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