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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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. . Verzeihen Sie meiner Ergießung des Herzens gegen den Mann, den ich
so liebe und doch bei seinem Wankelmuth auf einem so gefährlichen Wege
nach Genf wieder sehe/'

Die Abschiedsrede, mit welcher Müller 20. Januar 178" zu Bern seine
Vorlesungen schloß, ist gewissermaßen sein Testament an die Schweiz, die er
dauernd nicht wiedersehen sollte. "Große Zubereitungen und Wahrzeichen
eines Uebergangs des vorigen in eine ganz neue Verfassung der menschlichen
Gesellschaft bezeichnen unsere Zeit. Schuldenlasten der Seemächte, vor deren
Summe alle patriotischen Staatsrechner der vorigen Jahrhunderte würden
zurückgebebt haben, Kriegsheere so groß und so vortrefflich geordnet, als in
gar keiner von den Geschichtschreibern aufbehaltenen Periode; solche Bündnisse,
wodurch, menschlicherweise zu reden, der allgemeine Frieden oder die fürchter¬
lichste Erschütterung aller Staaten vom Glück und Willen etwa vier sterblicher
Menschen abhängt; eine Thätigkeit von Seiten großer Mächte, durch die Auf¬
lösung der alten Religion oft wider Gott und alle Rechte ungescheut kühn,
und nur durch die Vervollkommnung der politischen Arithmetik eingeschränkt.
Bei den Privatpersonen ein auf die Freiheit gestimmter Charakter, von welchem
aber noch nicht recht entschieden ist, ob er nach und nach den Despotismus
hemmen und mäßigen wird, oder ob er nicht aus Gleichgültigkeit oder Ueber-
druß endlich den Gewalthabern die Willkür alles Politischen überlassen, und
sich nur tue unedle Befreiung von der Pflicht beschwerlicher Tugenden vor¬
behalten wird --: solche Züge bezeichnen unsere Zeit; eine Zeit, von der ich
nicht weiß, ob un Umfang der Historie irgend eine wichtigere vorkommt." "In
solcher herber, unerbittlicher, stolzer Herrschaft, vor der keine urkundlichen Rechte '
geistlicher und weltlicher Herren, keine althergebrachte Gewohnheiten der Städte
und Länder etwas gelten; wo statt einer plötzlichen Ausrottung, wie in alten
Zeiten, immer tiefere Erniedrigung freien Männern obschwebt, in Zeiten über¬
mächtiger Kriege und untreuen Friedens, da Gott und Recht für Worte ge¬
halten werden, in Zeiten, wo man alles besorgen und für nichts erschrecken
muß: in diese Zeiten sind wir gekommen." "Die Städte und Länder der
N! mit uns verbundenen Orte schweizerischer Nation ruhen in dem wohl¬
erlangten Erbe ihrer biderben Voreltern, von ihrem großen alten ewigen Bund
wie von einer majestätischen Eiche beschattet;" aber auch ihnen naht sich die
Gefahr des militärischen Despotismus. "Die Mittel wider einen so
schändlichen Untergang sollten vor der Gefahr betrachtet werden, denn in der
Noth geschieht alles leidenschaftlich und selten mit Klugheit. Zu leicht wird
in langem Frieden das Große in der Politik nach und nach aus den Augen
gesetzt; es altern die Grundfesten der Verfassungen; der Väter Weisheit geht
ans Mißverstand in Vorurtheile über ... Es ist über die Kenntniß unserer
wahren innern Starke und der daraus folgenden Verhältnisse zu den ans-


. . Verzeihen Sie meiner Ergießung des Herzens gegen den Mann, den ich
so liebe und doch bei seinem Wankelmuth auf einem so gefährlichen Wege
nach Genf wieder sehe/'

Die Abschiedsrede, mit welcher Müller 20. Januar 178» zu Bern seine
Vorlesungen schloß, ist gewissermaßen sein Testament an die Schweiz, die er
dauernd nicht wiedersehen sollte. „Große Zubereitungen und Wahrzeichen
eines Uebergangs des vorigen in eine ganz neue Verfassung der menschlichen
Gesellschaft bezeichnen unsere Zeit. Schuldenlasten der Seemächte, vor deren
Summe alle patriotischen Staatsrechner der vorigen Jahrhunderte würden
zurückgebebt haben, Kriegsheere so groß und so vortrefflich geordnet, als in
gar keiner von den Geschichtschreibern aufbehaltenen Periode; solche Bündnisse,
wodurch, menschlicherweise zu reden, der allgemeine Frieden oder die fürchter¬
lichste Erschütterung aller Staaten vom Glück und Willen etwa vier sterblicher
Menschen abhängt; eine Thätigkeit von Seiten großer Mächte, durch die Auf¬
lösung der alten Religion oft wider Gott und alle Rechte ungescheut kühn,
und nur durch die Vervollkommnung der politischen Arithmetik eingeschränkt.
Bei den Privatpersonen ein auf die Freiheit gestimmter Charakter, von welchem
aber noch nicht recht entschieden ist, ob er nach und nach den Despotismus
hemmen und mäßigen wird, oder ob er nicht aus Gleichgültigkeit oder Ueber-
druß endlich den Gewalthabern die Willkür alles Politischen überlassen, und
sich nur tue unedle Befreiung von der Pflicht beschwerlicher Tugenden vor¬
behalten wird —: solche Züge bezeichnen unsere Zeit; eine Zeit, von der ich
nicht weiß, ob un Umfang der Historie irgend eine wichtigere vorkommt." „In
solcher herber, unerbittlicher, stolzer Herrschaft, vor der keine urkundlichen Rechte '
geistlicher und weltlicher Herren, keine althergebrachte Gewohnheiten der Städte
und Länder etwas gelten; wo statt einer plötzlichen Ausrottung, wie in alten
Zeiten, immer tiefere Erniedrigung freien Männern obschwebt, in Zeiten über¬
mächtiger Kriege und untreuen Friedens, da Gott und Recht für Worte ge¬
halten werden, in Zeiten, wo man alles besorgen und für nichts erschrecken
muß: in diese Zeiten sind wir gekommen." „Die Städte und Länder der
N! mit uns verbundenen Orte schweizerischer Nation ruhen in dem wohl¬
erlangten Erbe ihrer biderben Voreltern, von ihrem großen alten ewigen Bund
wie von einer majestätischen Eiche beschattet;" aber auch ihnen naht sich die
Gefahr des militärischen Despotismus. „Die Mittel wider einen so
schändlichen Untergang sollten vor der Gefahr betrachtet werden, denn in der
Noth geschieht alles leidenschaftlich und selten mit Klugheit. Zu leicht wird
in langem Frieden das Große in der Politik nach und nach aus den Augen
gesetzt; es altern die Grundfesten der Verfassungen; der Väter Weisheit geht
ans Mißverstand in Vorurtheile über ... Es ist über die Kenntniß unserer
wahren innern Starke und der daraus folgenden Verhältnisse zu den ans-


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[0232] . . Verzeihen Sie meiner Ergießung des Herzens gegen den Mann, den ich so liebe und doch bei seinem Wankelmuth auf einem so gefährlichen Wege nach Genf wieder sehe/' Die Abschiedsrede, mit welcher Müller 20. Januar 178» zu Bern seine Vorlesungen schloß, ist gewissermaßen sein Testament an die Schweiz, die er dauernd nicht wiedersehen sollte. „Große Zubereitungen und Wahrzeichen eines Uebergangs des vorigen in eine ganz neue Verfassung der menschlichen Gesellschaft bezeichnen unsere Zeit. Schuldenlasten der Seemächte, vor deren Summe alle patriotischen Staatsrechner der vorigen Jahrhunderte würden zurückgebebt haben, Kriegsheere so groß und so vortrefflich geordnet, als in gar keiner von den Geschichtschreibern aufbehaltenen Periode; solche Bündnisse, wodurch, menschlicherweise zu reden, der allgemeine Frieden oder die fürchter¬ lichste Erschütterung aller Staaten vom Glück und Willen etwa vier sterblicher Menschen abhängt; eine Thätigkeit von Seiten großer Mächte, durch die Auf¬ lösung der alten Religion oft wider Gott und alle Rechte ungescheut kühn, und nur durch die Vervollkommnung der politischen Arithmetik eingeschränkt. Bei den Privatpersonen ein auf die Freiheit gestimmter Charakter, von welchem aber noch nicht recht entschieden ist, ob er nach und nach den Despotismus hemmen und mäßigen wird, oder ob er nicht aus Gleichgültigkeit oder Ueber- druß endlich den Gewalthabern die Willkür alles Politischen überlassen, und sich nur tue unedle Befreiung von der Pflicht beschwerlicher Tugenden vor¬ behalten wird —: solche Züge bezeichnen unsere Zeit; eine Zeit, von der ich nicht weiß, ob un Umfang der Historie irgend eine wichtigere vorkommt." „In solcher herber, unerbittlicher, stolzer Herrschaft, vor der keine urkundlichen Rechte ' geistlicher und weltlicher Herren, keine althergebrachte Gewohnheiten der Städte und Länder etwas gelten; wo statt einer plötzlichen Ausrottung, wie in alten Zeiten, immer tiefere Erniedrigung freien Männern obschwebt, in Zeiten über¬ mächtiger Kriege und untreuen Friedens, da Gott und Recht für Worte ge¬ halten werden, in Zeiten, wo man alles besorgen und für nichts erschrecken muß: in diese Zeiten sind wir gekommen." „Die Städte und Länder der N! mit uns verbundenen Orte schweizerischer Nation ruhen in dem wohl¬ erlangten Erbe ihrer biderben Voreltern, von ihrem großen alten ewigen Bund wie von einer majestätischen Eiche beschattet;" aber auch ihnen naht sich die Gefahr des militärischen Despotismus. „Die Mittel wider einen so schändlichen Untergang sollten vor der Gefahr betrachtet werden, denn in der Noth geschieht alles leidenschaftlich und selten mit Klugheit. Zu leicht wird in langem Frieden das Große in der Politik nach und nach aus den Augen gesetzt; es altern die Grundfesten der Verfassungen; der Väter Weisheit geht ans Mißverstand in Vorurtheile über ... Es ist über die Kenntniß unserer wahren innern Starke und der daraus folgenden Verhältnisse zu den ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/232>, abgerufen am 21.12.2024.