Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

oft dem Naturalismus zuneigen, was Raphael fast nie begegnet. In jedem
einzelnen Kunstmerk wird überhaupt die Hinneigung zu der einen oder andern
Seite wieder eine andere sein.

Nach dieser vorläufigen Begriffsbestimmung kehren wir zur Begründung
unseres Satzes, daß jede Revolution in der Kunst realistischer Natur gewesen
sei. zurück: Wir sahen also, wie der ersten idealistisch symbolischen Periode
die Durchdringung mit dem Gehalte des wirklichen Lebens, wie z. B. in den
ersten eigentlichen Kunstwerken, den großen Nationalepen, dem Homer und
der Bibel folgt, wie seine Anschauung ausgesprochen, seine Ideale personificirt
werden, dies geschieht jedesmal aufs neue so realistisch, so wahr, als dies
eben das Knnstvermögen der jeweiligen Periode oder des jeweiligen Refor-
mators vermag.

So folgen bei den Griechen nacheinander in der Sculptur die Revolu¬
tionen des Ageladas, Phidias, Skopas, Praxiteles, Lysippvs u. s?w., deren jeder
die Borgänger zunächst durch feinere Beobachtung der Naturgesetze im all¬
gemeinen, dann durch die genauere Individualisirung der Gestalten zu über¬
bieten suchte. Wir sehen, wie in der Malerei der Farbenpracht des Polygnot
und seiner Großartigkeit Agatharchos die Beobachtung der Spiele des Lichts
und Schattens, der Mezzotinten, Zeuxis die weibliche Anmuth, Parrhasios
die Nundung der Gestalten zugesellt, bis Apelles die Borzüge aller bisherigen'
Schulen gleich Raphael zusammenfaßte und mit der feinsten Durchbildung der
Individualität zugleich den größten Adel verband. Können wir dieses Gesetz
der Entwicklung schon in der antiken Kunst nachweisen, so liegt es noch nn-
widersprechlicher in der mittelalterlichen zu Tage, da uns bei dieser eine viel
genauere Kenntniß zur Seite steht.

Bekanntlich war die altchristlich byzantinische Kunst allniälig zur Bildung
blos conventioneller Figuren erstarrt, bei denen so ziemlich alles gesetzlich vor¬
geschrieben, typisch ausgebildet war. Erst Giotto mit seinen Zeitgenossen
fängt wieder an zu fragen, zu beobachten, wie sich denn die wirklichen Men¬
schen bewegen, welche Borstellungen von himmlischen und irdischen Dingen
seine eignen Zeitgenossen haben, und strebt, dieselben in die von den Byzan¬
tinern erlernten Formen zu fassen, die er dadurch ebenso umzubilden genöthigt
wird, als er den Kreis der Stoffe mächtig erweitert. Seine Schule wird nun
herrschend in ganz Italien, und in dieser Zeit suchen seiner oft abschreckend
realistischen Wahrheit Orcagna und andere die erste" Elemente zur Verschö¬
nerung, zur Idealisirung der Gestalten zuzugefellen. Aber so bezaubernd
wu'le jene Eroberung des Giotto. der Schilderung deö wirklichen Lebens in
dem Kreis der damals eroberten Stoffe, daß sust ein Jahrhundert lang von
der schule blos nach dieser Seite hin gearbeitet, die Form aber gar nicht
mehr verbessert wird, bis die neue Revolution durch Masaccio, Fiesole. Lippi,


oft dem Naturalismus zuneigen, was Raphael fast nie begegnet. In jedem
einzelnen Kunstmerk wird überhaupt die Hinneigung zu der einen oder andern
Seite wieder eine andere sein.

Nach dieser vorläufigen Begriffsbestimmung kehren wir zur Begründung
unseres Satzes, daß jede Revolution in der Kunst realistischer Natur gewesen
sei. zurück: Wir sahen also, wie der ersten idealistisch symbolischen Periode
die Durchdringung mit dem Gehalte des wirklichen Lebens, wie z. B. in den
ersten eigentlichen Kunstwerken, den großen Nationalepen, dem Homer und
der Bibel folgt, wie seine Anschauung ausgesprochen, seine Ideale personificirt
werden, dies geschieht jedesmal aufs neue so realistisch, so wahr, als dies
eben das Knnstvermögen der jeweiligen Periode oder des jeweiligen Refor-
mators vermag.

So folgen bei den Griechen nacheinander in der Sculptur die Revolu¬
tionen des Ageladas, Phidias, Skopas, Praxiteles, Lysippvs u. s?w., deren jeder
die Borgänger zunächst durch feinere Beobachtung der Naturgesetze im all¬
gemeinen, dann durch die genauere Individualisirung der Gestalten zu über¬
bieten suchte. Wir sehen, wie in der Malerei der Farbenpracht des Polygnot
und seiner Großartigkeit Agatharchos die Beobachtung der Spiele des Lichts
und Schattens, der Mezzotinten, Zeuxis die weibliche Anmuth, Parrhasios
die Nundung der Gestalten zugesellt, bis Apelles die Borzüge aller bisherigen'
Schulen gleich Raphael zusammenfaßte und mit der feinsten Durchbildung der
Individualität zugleich den größten Adel verband. Können wir dieses Gesetz
der Entwicklung schon in der antiken Kunst nachweisen, so liegt es noch nn-
widersprechlicher in der mittelalterlichen zu Tage, da uns bei dieser eine viel
genauere Kenntniß zur Seite steht.

Bekanntlich war die altchristlich byzantinische Kunst allniälig zur Bildung
blos conventioneller Figuren erstarrt, bei denen so ziemlich alles gesetzlich vor¬
geschrieben, typisch ausgebildet war. Erst Giotto mit seinen Zeitgenossen
fängt wieder an zu fragen, zu beobachten, wie sich denn die wirklichen Men¬
schen bewegen, welche Borstellungen von himmlischen und irdischen Dingen
seine eignen Zeitgenossen haben, und strebt, dieselben in die von den Byzan¬
tinern erlernten Formen zu fassen, die er dadurch ebenso umzubilden genöthigt
wird, als er den Kreis der Stoffe mächtig erweitert. Seine Schule wird nun
herrschend in ganz Italien, und in dieser Zeit suchen seiner oft abschreckend
realistischen Wahrheit Orcagna und andere die erste» Elemente zur Verschö¬
nerung, zur Idealisirung der Gestalten zuzugefellen. Aber so bezaubernd
wu'le jene Eroberung des Giotto. der Schilderung deö wirklichen Lebens in
dem Kreis der damals eroberten Stoffe, daß sust ein Jahrhundert lang von
der schule blos nach dieser Seite hin gearbeitet, die Form aber gar nicht
mehr verbessert wird, bis die neue Revolution durch Masaccio, Fiesole. Lippi,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186435"/>
          <p xml:id="ID_45" prev="#ID_44"> oft dem Naturalismus zuneigen, was Raphael fast nie begegnet. In jedem<lb/>
einzelnen Kunstmerk wird überhaupt die Hinneigung zu der einen oder andern<lb/>
Seite wieder eine andere sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_46"> Nach dieser vorläufigen Begriffsbestimmung kehren wir zur Begründung<lb/>
unseres Satzes, daß jede Revolution in der Kunst realistischer Natur gewesen<lb/>
sei. zurück: Wir sahen also, wie der ersten idealistisch symbolischen Periode<lb/>
die Durchdringung mit dem Gehalte des wirklichen Lebens, wie z. B. in den<lb/>
ersten eigentlichen Kunstwerken, den großen Nationalepen, dem Homer und<lb/>
der Bibel folgt, wie seine Anschauung ausgesprochen, seine Ideale personificirt<lb/>
werden, dies geschieht jedesmal aufs neue so realistisch, so wahr, als dies<lb/>
eben das Knnstvermögen der jeweiligen Periode oder des jeweiligen Refor-<lb/>
mators vermag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_47"> So folgen bei den Griechen nacheinander in der Sculptur die Revolu¬<lb/>
tionen des Ageladas, Phidias, Skopas, Praxiteles, Lysippvs u. s?w., deren jeder<lb/>
die Borgänger zunächst durch feinere Beobachtung der Naturgesetze im all¬<lb/>
gemeinen, dann durch die genauere Individualisirung der Gestalten zu über¬<lb/>
bieten suchte. Wir sehen, wie in der Malerei der Farbenpracht des Polygnot<lb/>
und seiner Großartigkeit Agatharchos die Beobachtung der Spiele des Lichts<lb/>
und Schattens, der Mezzotinten, Zeuxis die weibliche Anmuth, Parrhasios<lb/>
die Nundung der Gestalten zugesellt, bis Apelles die Borzüge aller bisherigen'<lb/>
Schulen gleich Raphael zusammenfaßte und mit der feinsten Durchbildung der<lb/>
Individualität zugleich den größten Adel verband. Können wir dieses Gesetz<lb/>
der Entwicklung schon in der antiken Kunst nachweisen, so liegt es noch nn-<lb/>
widersprechlicher in der mittelalterlichen zu Tage, da uns bei dieser eine viel<lb/>
genauere Kenntniß zur Seite steht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_48" next="#ID_49"> Bekanntlich war die altchristlich byzantinische Kunst allniälig zur Bildung<lb/>
blos conventioneller Figuren erstarrt, bei denen so ziemlich alles gesetzlich vor¬<lb/>
geschrieben, typisch ausgebildet war. Erst Giotto mit seinen Zeitgenossen<lb/>
fängt wieder an zu fragen, zu beobachten, wie sich denn die wirklichen Men¬<lb/>
schen bewegen, welche Borstellungen von himmlischen und irdischen Dingen<lb/>
seine eignen Zeitgenossen haben, und strebt, dieselben in die von den Byzan¬<lb/>
tinern erlernten Formen zu fassen, die er dadurch ebenso umzubilden genöthigt<lb/>
wird, als er den Kreis der Stoffe mächtig erweitert. Seine Schule wird nun<lb/>
herrschend in ganz Italien, und in dieser Zeit suchen seiner oft abschreckend<lb/>
realistischen Wahrheit Orcagna und andere die erste» Elemente zur Verschö¬<lb/>
nerung, zur Idealisirung der Gestalten zuzugefellen. Aber so bezaubernd<lb/>
wu'le jene Eroberung des Giotto. der Schilderung deö wirklichen Lebens in<lb/>
dem Kreis der damals eroberten Stoffe, daß sust ein Jahrhundert lang von<lb/>
der schule blos nach dieser Seite hin gearbeitet, die Form aber gar nicht<lb/>
mehr verbessert wird, bis die neue Revolution durch Masaccio, Fiesole. Lippi,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] oft dem Naturalismus zuneigen, was Raphael fast nie begegnet. In jedem einzelnen Kunstmerk wird überhaupt die Hinneigung zu der einen oder andern Seite wieder eine andere sein. Nach dieser vorläufigen Begriffsbestimmung kehren wir zur Begründung unseres Satzes, daß jede Revolution in der Kunst realistischer Natur gewesen sei. zurück: Wir sahen also, wie der ersten idealistisch symbolischen Periode die Durchdringung mit dem Gehalte des wirklichen Lebens, wie z. B. in den ersten eigentlichen Kunstwerken, den großen Nationalepen, dem Homer und der Bibel folgt, wie seine Anschauung ausgesprochen, seine Ideale personificirt werden, dies geschieht jedesmal aufs neue so realistisch, so wahr, als dies eben das Knnstvermögen der jeweiligen Periode oder des jeweiligen Refor- mators vermag. So folgen bei den Griechen nacheinander in der Sculptur die Revolu¬ tionen des Ageladas, Phidias, Skopas, Praxiteles, Lysippvs u. s?w., deren jeder die Borgänger zunächst durch feinere Beobachtung der Naturgesetze im all¬ gemeinen, dann durch die genauere Individualisirung der Gestalten zu über¬ bieten suchte. Wir sehen, wie in der Malerei der Farbenpracht des Polygnot und seiner Großartigkeit Agatharchos die Beobachtung der Spiele des Lichts und Schattens, der Mezzotinten, Zeuxis die weibliche Anmuth, Parrhasios die Nundung der Gestalten zugesellt, bis Apelles die Borzüge aller bisherigen' Schulen gleich Raphael zusammenfaßte und mit der feinsten Durchbildung der Individualität zugleich den größten Adel verband. Können wir dieses Gesetz der Entwicklung schon in der antiken Kunst nachweisen, so liegt es noch nn- widersprechlicher in der mittelalterlichen zu Tage, da uns bei dieser eine viel genauere Kenntniß zur Seite steht. Bekanntlich war die altchristlich byzantinische Kunst allniälig zur Bildung blos conventioneller Figuren erstarrt, bei denen so ziemlich alles gesetzlich vor¬ geschrieben, typisch ausgebildet war. Erst Giotto mit seinen Zeitgenossen fängt wieder an zu fragen, zu beobachten, wie sich denn die wirklichen Men¬ schen bewegen, welche Borstellungen von himmlischen und irdischen Dingen seine eignen Zeitgenossen haben, und strebt, dieselben in die von den Byzan¬ tinern erlernten Formen zu fassen, die er dadurch ebenso umzubilden genöthigt wird, als er den Kreis der Stoffe mächtig erweitert. Seine Schule wird nun herrschend in ganz Italien, und in dieser Zeit suchen seiner oft abschreckend realistischen Wahrheit Orcagna und andere die erste» Elemente zur Verschö¬ nerung, zur Idealisirung der Gestalten zuzugefellen. Aber so bezaubernd wu'le jene Eroberung des Giotto. der Schilderung deö wirklichen Lebens in dem Kreis der damals eroberten Stoffe, daß sust ein Jahrhundert lang von der schule blos nach dieser Seite hin gearbeitet, die Form aber gar nicht mehr verbessert wird, bis die neue Revolution durch Masaccio, Fiesole. Lippi,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/23>, abgerufen am 21.12.2024.