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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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von der wunderbaren Fügung aller Dinge täglich neue Proben entdeckt habe.
Es ist eine Kette, die von Gott ausgeht und alle Wesen vom Weltall bis
auf jeden Staub in Verbindung hält; alles ist verknüpft; hin und wieder
finden wir einige Glieder der Kette, aber das Meiste ist in Dunkel gehüllt."

Auf Schliessers Anregung hatte er die Schweizergeschichte ernstlich wieder
vorgenommen; schon am 5. Febr. 1782 konnte er dem Freund einige glän¬
zende Landschaftsbilder aus dem zweiten Theil zuschicken. Schliessen war un¬
ermüdlich, ihn zur Arbeit anzutreiben und ihn durch rege Theilnahme zu
ermuntern. Für den Augenblick legte er alle andere Arbeit bei Seite. Auch
der erste Theil wurde ganz umgestaltet; nur die Schlachtbilder blieben in der
alten Form. Der unglückliche Aufenthalt bei Tronchin hatte diese Arbeiten
völlig unterbrochen, desto eifriger gab er sich ihnen in Valeires hin. Von
da besuchte er Mai 1785 die helvetische Gesellschaft zu Otter, machte nach
einem längern Aufenthalt in Schaffhnuscn und Zürich mit Bonstetten eine
Alpenreise, und siedelte sich im Winter zu Bern an, wo er seine allgemeine
Geschichte, diesmal deutsch ausgearbeitet, unter großen, Betfall vortrug.
Gleichzeitig erfolgte der Druck der Schweizergeschichte in Leipzig; die beiden
ersten Bände erschienen 178"!, der dritte 1788--1795; der vierte 1805; die,
eiste Abtheilung des fünften 1808: auch diese war nicht einmal bis zu dein
Frieden von 1499 fortgeführt, sie brach 1489 ub. Dies war die Ausgabe,
welche Müller nicht blos in den Augen der Menge, sondern unter den ersten
Geistern unserer Nation den Nus eines classischen Schriftstellers verschaffte,
dessen Erfolg selbst diejenigen zweifelhaft machte, die seine Methode für un¬
richtig hielten. -- Es ging der Schweizergeschichte wie manchem anderen be¬
rühmten Buch: obgleich viel genannt, ist sie als Ganzes wenig gelesen wor¬
den. Man begnügte sich mit den einzelnen schonen Stellen, namentlich den
Schlachtgemälden, denen man fast in allen Blumcnlcsen deutscher Prosa wieder
begegnet. Diese Art des Erfolgs ist charakteristisch für das Buch. Eine gründ¬
liche ruhige Untersuchung fesselt den Leser von Anfang bis zum Schluß, wel¬
ches auch ihr Gegenstand sei, aber von diesem Lessingschen Geist war bei
Müller keine Spur, seine Kraft war ausschließlich auf einzelne dramatische
Gemälde gerichtet, welche die Einbildungskraft und das Gemüth lebhast an¬
regten. Da nun aber nicht jeder Moment der Geschichte dazu geeignet ist,
so blieben in seiner idealifirten Chronik große Lücken, matte Darstellungen,
die nur ein locales Interesse haben konnten. Und doch war sein Stoff für
eine einheitliche Behandlung nicht ungünstig. Es ist für einen Geschicht¬
schreiber kein geringer Gewinn, einem Volk anzugehören, in dem jeder an dem
Gemeinwesen lebendigen Antheil nimmt, in dem sich die Sagen von dem
Ursprung und der Fortbildung der staatlichen Zustände in ununterbrochener
Ueberlieferung erhalten haben, wo jeder Einzelne sich als Erbe des National-


von der wunderbaren Fügung aller Dinge täglich neue Proben entdeckt habe.
Es ist eine Kette, die von Gott ausgeht und alle Wesen vom Weltall bis
auf jeden Staub in Verbindung hält; alles ist verknüpft; hin und wieder
finden wir einige Glieder der Kette, aber das Meiste ist in Dunkel gehüllt."

Auf Schliessers Anregung hatte er die Schweizergeschichte ernstlich wieder
vorgenommen; schon am 5. Febr. 1782 konnte er dem Freund einige glän¬
zende Landschaftsbilder aus dem zweiten Theil zuschicken. Schliessen war un¬
ermüdlich, ihn zur Arbeit anzutreiben und ihn durch rege Theilnahme zu
ermuntern. Für den Augenblick legte er alle andere Arbeit bei Seite. Auch
der erste Theil wurde ganz umgestaltet; nur die Schlachtbilder blieben in der
alten Form. Der unglückliche Aufenthalt bei Tronchin hatte diese Arbeiten
völlig unterbrochen, desto eifriger gab er sich ihnen in Valeires hin. Von
da besuchte er Mai 1785 die helvetische Gesellschaft zu Otter, machte nach
einem längern Aufenthalt in Schaffhnuscn und Zürich mit Bonstetten eine
Alpenreise, und siedelte sich im Winter zu Bern an, wo er seine allgemeine
Geschichte, diesmal deutsch ausgearbeitet, unter großen, Betfall vortrug.
Gleichzeitig erfolgte der Druck der Schweizergeschichte in Leipzig; die beiden
ersten Bände erschienen 178«!, der dritte 1788—1795; der vierte 1805; die,
eiste Abtheilung des fünften 1808: auch diese war nicht einmal bis zu dein
Frieden von 1499 fortgeführt, sie brach 1489 ub. Dies war die Ausgabe,
welche Müller nicht blos in den Augen der Menge, sondern unter den ersten
Geistern unserer Nation den Nus eines classischen Schriftstellers verschaffte,
dessen Erfolg selbst diejenigen zweifelhaft machte, die seine Methode für un¬
richtig hielten. — Es ging der Schweizergeschichte wie manchem anderen be¬
rühmten Buch: obgleich viel genannt, ist sie als Ganzes wenig gelesen wor¬
den. Man begnügte sich mit den einzelnen schonen Stellen, namentlich den
Schlachtgemälden, denen man fast in allen Blumcnlcsen deutscher Prosa wieder
begegnet. Diese Art des Erfolgs ist charakteristisch für das Buch. Eine gründ¬
liche ruhige Untersuchung fesselt den Leser von Anfang bis zum Schluß, wel¬
ches auch ihr Gegenstand sei, aber von diesem Lessingschen Geist war bei
Müller keine Spur, seine Kraft war ausschließlich auf einzelne dramatische
Gemälde gerichtet, welche die Einbildungskraft und das Gemüth lebhast an¬
regten. Da nun aber nicht jeder Moment der Geschichte dazu geeignet ist,
so blieben in seiner idealifirten Chronik große Lücken, matte Darstellungen,
die nur ein locales Interesse haben konnten. Und doch war sein Stoff für
eine einheitliche Behandlung nicht ungünstig. Es ist für einen Geschicht¬
schreiber kein geringer Gewinn, einem Volk anzugehören, in dem jeder an dem
Gemeinwesen lebendigen Antheil nimmt, in dem sich die Sagen von dem
Ursprung und der Fortbildung der staatlichen Zustände in ununterbrochener
Ueberlieferung erhalten haben, wo jeder Einzelne sich als Erbe des National-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/226>, abgerufen am 21.12.2024.