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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Recht Aufmerksamkeit erregte -- wie die Konservativen begnügten sich mit
ein paar kühlen praktischen Erörterungen, die durchaus auf der Ober¬
fläche blieben; während die Fraction Cobden. die für ewigen Frieden
und Humanität so überflüssig schwärmt, sich in der Negative verhielt. Das
Urtheil über den Antrag war von außen dictirt. Nicht die Vertretung des
Volkes, sondern eine regsame, leidenschaftliche Partei hatte gesprochen. Diese
Partei hatte Zeit gehabt sich zu rüsten, um mit ihrer ganzen Macht einzu¬
treten. Hunderte riesiger Petitionen waren eingelaufen neben den Verwarnungen
zahlreicher Constituenten an ihre Vertreter. Am Tage der Entscheidung fand
es sich, daß 628,294 Personen sich gegen den Antrag erklärt hatten, für den¬
selben nur 27.257. Das "Volk" hatte entschieden.

Das Volt! Und stellen diese 055,55t Personen das Volk dar? Wer sind
sie? Welches Interesse haben sie?

Ehe wir zur Charakteristik der Majorität übergehen, werfen wir einen
Blick auf die Minorität der Petenten. Ihre Zahl ist vergleichsweise gering;
bei näherem Anschauen wird man sie dagegen auffallend stark finden. Mögen
Philosophen und Aufklärer predigen und demonstriren, so viel sie wollen,
durch eine bloße Negation wird die Menge nie stark und nachhaltig erregt.
Diese verlangt Thatsachen, Klarheit, Offenheit, vor allem ein bestimmtes,
festes Ziel. Hätten die Liberalen ihr Svnntagsproject begründet auf die
Ideen der Gleichberechtigung aller, der Humanität, der Bildung und Er¬
ziehung des Volkes, so wären ihnen Hunderttausende freidenkender'Männer
aus allen Ständen zugeströmt. Die Frage wäre echt populär geworden. In
der Fassung dagegen, welche ihr zu Theil wurde, erschien sie mehr als eine
Demonstration gegen die streng kirchliche Partei, als eine Opposition gegen
eine alte, tiefgewurzelte Sitte. Von dieser verneinenden Seite ^sieht man sie
immer und immer wieder behandelt. Und so betrachtet, ist ohne Zweifel der
Quäker und der Baptist mit seiner praktischen Orthodoxie im Vorrecht. Eine
bornirte Ueberzeugung ist überall mehr werth als Geist ohne Grundsätze.
Wer dem Volke einen Wahn nehmen will, gebe ihm dafür eine Wahrheit.
Wenn nun trotzdem 27.000 Personen gegen die Sonntagsbcschränkung sich
erhoben, so ist es klar, daß dieses Leute sein müssen, die von dem eigent¬
lichen Gehalt der Frage wenn nicht einen klaren Begriff, doch wenigstens ein
allgemeines Gefühl haben und sich von etwas Positivem getrieben fühlen.
Und 27,000 Menschen, warm für eine Idee, sind eine große Armee, die nicht
am Siege zu verzweifeln braucht.

Und dies führt uns dazu, wieder einmal ein Bild des kirchlichen Geistes
in England zu geben. Es ist über die Bigotterie dieses Reiches so viel aus
deutschen Federn geflossen, daß man sich dieses Themas gern ganz enthalten
möchte. Da aber der Gegenstand von höchster Wichtigkeit ist. so dürfen wir


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Recht Aufmerksamkeit erregte — wie die Konservativen begnügten sich mit
ein paar kühlen praktischen Erörterungen, die durchaus auf der Ober¬
fläche blieben; während die Fraction Cobden. die für ewigen Frieden
und Humanität so überflüssig schwärmt, sich in der Negative verhielt. Das
Urtheil über den Antrag war von außen dictirt. Nicht die Vertretung des
Volkes, sondern eine regsame, leidenschaftliche Partei hatte gesprochen. Diese
Partei hatte Zeit gehabt sich zu rüsten, um mit ihrer ganzen Macht einzu¬
treten. Hunderte riesiger Petitionen waren eingelaufen neben den Verwarnungen
zahlreicher Constituenten an ihre Vertreter. Am Tage der Entscheidung fand
es sich, daß 628,294 Personen sich gegen den Antrag erklärt hatten, für den¬
selben nur 27.257. Das „Volk" hatte entschieden.

Das Volt! Und stellen diese 055,55t Personen das Volk dar? Wer sind
sie? Welches Interesse haben sie?

Ehe wir zur Charakteristik der Majorität übergehen, werfen wir einen
Blick auf die Minorität der Petenten. Ihre Zahl ist vergleichsweise gering;
bei näherem Anschauen wird man sie dagegen auffallend stark finden. Mögen
Philosophen und Aufklärer predigen und demonstriren, so viel sie wollen,
durch eine bloße Negation wird die Menge nie stark und nachhaltig erregt.
Diese verlangt Thatsachen, Klarheit, Offenheit, vor allem ein bestimmtes,
festes Ziel. Hätten die Liberalen ihr Svnntagsproject begründet auf die
Ideen der Gleichberechtigung aller, der Humanität, der Bildung und Er¬
ziehung des Volkes, so wären ihnen Hunderttausende freidenkender'Männer
aus allen Ständen zugeströmt. Die Frage wäre echt populär geworden. In
der Fassung dagegen, welche ihr zu Theil wurde, erschien sie mehr als eine
Demonstration gegen die streng kirchliche Partei, als eine Opposition gegen
eine alte, tiefgewurzelte Sitte. Von dieser verneinenden Seite ^sieht man sie
immer und immer wieder behandelt. Und so betrachtet, ist ohne Zweifel der
Quäker und der Baptist mit seiner praktischen Orthodoxie im Vorrecht. Eine
bornirte Ueberzeugung ist überall mehr werth als Geist ohne Grundsätze.
Wer dem Volke einen Wahn nehmen will, gebe ihm dafür eine Wahrheit.
Wenn nun trotzdem 27.000 Personen gegen die Sonntagsbcschränkung sich
erhoben, so ist es klar, daß dieses Leute sein müssen, die von dem eigent¬
lichen Gehalt der Frage wenn nicht einen klaren Begriff, doch wenigstens ein
allgemeines Gefühl haben und sich von etwas Positivem getrieben fühlen.
Und 27,000 Menschen, warm für eine Idee, sind eine große Armee, die nicht
am Siege zu verzweifeln braucht.

Und dies führt uns dazu, wieder einmal ein Bild des kirchlichen Geistes
in England zu geben. Es ist über die Bigotterie dieses Reiches so viel aus
deutschen Federn geflossen, daß man sich dieses Themas gern ganz enthalten
möchte. Da aber der Gegenstand von höchster Wichtigkeit ist. so dürfen wir


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[0179] Recht Aufmerksamkeit erregte — wie die Konservativen begnügten sich mit ein paar kühlen praktischen Erörterungen, die durchaus auf der Ober¬ fläche blieben; während die Fraction Cobden. die für ewigen Frieden und Humanität so überflüssig schwärmt, sich in der Negative verhielt. Das Urtheil über den Antrag war von außen dictirt. Nicht die Vertretung des Volkes, sondern eine regsame, leidenschaftliche Partei hatte gesprochen. Diese Partei hatte Zeit gehabt sich zu rüsten, um mit ihrer ganzen Macht einzu¬ treten. Hunderte riesiger Petitionen waren eingelaufen neben den Verwarnungen zahlreicher Constituenten an ihre Vertreter. Am Tage der Entscheidung fand es sich, daß 628,294 Personen sich gegen den Antrag erklärt hatten, für den¬ selben nur 27.257. Das „Volk" hatte entschieden. Das Volt! Und stellen diese 055,55t Personen das Volk dar? Wer sind sie? Welches Interesse haben sie? Ehe wir zur Charakteristik der Majorität übergehen, werfen wir einen Blick auf die Minorität der Petenten. Ihre Zahl ist vergleichsweise gering; bei näherem Anschauen wird man sie dagegen auffallend stark finden. Mögen Philosophen und Aufklärer predigen und demonstriren, so viel sie wollen, durch eine bloße Negation wird die Menge nie stark und nachhaltig erregt. Diese verlangt Thatsachen, Klarheit, Offenheit, vor allem ein bestimmtes, festes Ziel. Hätten die Liberalen ihr Svnntagsproject begründet auf die Ideen der Gleichberechtigung aller, der Humanität, der Bildung und Er¬ ziehung des Volkes, so wären ihnen Hunderttausende freidenkender'Männer aus allen Ständen zugeströmt. Die Frage wäre echt populär geworden. In der Fassung dagegen, welche ihr zu Theil wurde, erschien sie mehr als eine Demonstration gegen die streng kirchliche Partei, als eine Opposition gegen eine alte, tiefgewurzelte Sitte. Von dieser verneinenden Seite ^sieht man sie immer und immer wieder behandelt. Und so betrachtet, ist ohne Zweifel der Quäker und der Baptist mit seiner praktischen Orthodoxie im Vorrecht. Eine bornirte Ueberzeugung ist überall mehr werth als Geist ohne Grundsätze. Wer dem Volke einen Wahn nehmen will, gebe ihm dafür eine Wahrheit. Wenn nun trotzdem 27.000 Personen gegen die Sonntagsbcschränkung sich erhoben, so ist es klar, daß dieses Leute sein müssen, die von dem eigent¬ lichen Gehalt der Frage wenn nicht einen klaren Begriff, doch wenigstens ein allgemeines Gefühl haben und sich von etwas Positivem getrieben fühlen. Und 27,000 Menschen, warm für eine Idee, sind eine große Armee, die nicht am Siege zu verzweifeln braucht. Und dies führt uns dazu, wieder einmal ein Bild des kirchlichen Geistes in England zu geben. Es ist über die Bigotterie dieses Reiches so viel aus deutschen Federn geflossen, daß man sich dieses Themas gern ganz enthalten möchte. Da aber der Gegenstand von höchster Wichtigkeit ist. so dürfen wir 22'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/179>, abgerufen am 21.12.2024.