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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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religion, bei der die äußern Formen eine lieber als die andere sein kann,
keine aber zum Wesen gehört; die hcrzerhebendsten, und welche Gott und
Menschen einander am nächsten bringen, sind freilich die besten." "Deine Be¬
trachtungen über die Brüdergemeinde sind wahr. Mit mir ists darin sonder¬
bar, daß ich einerseits für Mysticismus stark inclinire,*) andrerseits eine um
überwindliche Abneigung gegen alles Enge, Einschränkende habe und intolerant
bin nur gegen die Intoleranz. 1770, wo ich vom Glauben meiner Kindheit
abfiel, war hauptsächlich die Ursache, weil man haben wollte, es sei kein Heil
außer demselben; und nur die Verdammung der Griechen und Römer kann
ich den Kirchenvätern nicht vergeben. Dieser Despotismus nun herrscht freilich
auch bei den Brüdern, so wie fast allen Sekten (die deistischen oben an):
darum werde ich sie allezeit lieben, wie unter allem Volk wer gut' ist, und
ganz besonders wegen ihrer standhaften Tendenz auf den Mittelpunkt von
allem; Jesum; aber nie zu ihnen treten; sonst könnte ich jene Universalhistorie
nicht schreiben, denn wäre ich bei ihnen, so käme ich unter sie. vielleicht selbst
auch durch zu viele Liebe."

In dieser Stimmung schließt er sich schon seit 1786 immer enger an
Lao n ter an, den er früher so verachtet. "Nun thut Lavaters Herz dem meinigen
wohl. Sage ihm, daß ich seinen ganzen Gesang fühle und fast so stolz darauf
sei, als wenn ich ihn gemacht hätte. In Wahrheit scheint er von einem Engel
geschrieben." (Ul. Apr. 17-.W) Ihm selbst schreibt er, 4. Mai 1790: "Lavater!
Bruder, Vater, Lehrer, Freund, oder was sonst Du mir sein willst, alles in
unserm Herrn und Gott! Gesegnet seien die Götterstunden, da Deine Seele
sich erhob zu dem, in dein alles ist, und in ihm schaute und sah, was in dein
Herzen des Menschen ist, und welche Höhe es erlangen kann, wenn es bei
dem Urquell der Kraft bleibt. . . . Freund Jesu und der Brüder! Trage die
schwachen Schafe, wie der Meister, und hilf ihnen fort. Zu unsrer Zeit ent¬
fernen sich manche sonst Gute aus Schwäche gegen den aus dem ganzen Weltton
und aus den schönsten Werten des Witzes allzu gewaltig übcrstürmendcn Strom
der Sinnenlüste, und andere, grade die zartesten Herzen aus Furcht, vor den
allerreinsten in unvollständig überwundenen Schwächen zu erscheinen; daher
sie sich lieber träg hinreißen lassen, und im Taumel Selbstvergessenheit suchen.
Auf der andern Seite wird hierüber nirgend so gelehrt, wie es der himmlischen
Reinheit würdig ist; so wie unsere Moral überhaupt ein elendes, gesetzliches,
judaistrendes Geschwätz ist, welches niemand halten kann, so wird auch hierüber
der Mensch nicht nach dem freien Evangeliumssinn geleitet, ohne ängstliche
Gesetzesfurcht nur das zu betrachten, daß nur in reinen Herzen die echte Liebe
und Christus wohnen kann, welche Hoheit, wie einig wahre Würde und Un-



") Mehr als er selbst glaubte. Jede dunkle Prophezeihung, auch die lächerlichste, machte
ihn betroffen; seine Aufmerksamkeit auf Zahlencombinntimien erinnert an eine Kartenschlagen".

religion, bei der die äußern Formen eine lieber als die andere sein kann,
keine aber zum Wesen gehört; die hcrzerhebendsten, und welche Gott und
Menschen einander am nächsten bringen, sind freilich die besten." „Deine Be¬
trachtungen über die Brüdergemeinde sind wahr. Mit mir ists darin sonder¬
bar, daß ich einerseits für Mysticismus stark inclinire,*) andrerseits eine um
überwindliche Abneigung gegen alles Enge, Einschränkende habe und intolerant
bin nur gegen die Intoleranz. 1770, wo ich vom Glauben meiner Kindheit
abfiel, war hauptsächlich die Ursache, weil man haben wollte, es sei kein Heil
außer demselben; und nur die Verdammung der Griechen und Römer kann
ich den Kirchenvätern nicht vergeben. Dieser Despotismus nun herrscht freilich
auch bei den Brüdern, so wie fast allen Sekten (die deistischen oben an):
darum werde ich sie allezeit lieben, wie unter allem Volk wer gut' ist, und
ganz besonders wegen ihrer standhaften Tendenz auf den Mittelpunkt von
allem; Jesum; aber nie zu ihnen treten; sonst könnte ich jene Universalhistorie
nicht schreiben, denn wäre ich bei ihnen, so käme ich unter sie. vielleicht selbst
auch durch zu viele Liebe."

In dieser Stimmung schließt er sich schon seit 1786 immer enger an
Lao n ter an, den er früher so verachtet. „Nun thut Lavaters Herz dem meinigen
wohl. Sage ihm, daß ich seinen ganzen Gesang fühle und fast so stolz darauf
sei, als wenn ich ihn gemacht hätte. In Wahrheit scheint er von einem Engel
geschrieben." (Ul. Apr. 17-.W) Ihm selbst schreibt er, 4. Mai 1790: „Lavater!
Bruder, Vater, Lehrer, Freund, oder was sonst Du mir sein willst, alles in
unserm Herrn und Gott! Gesegnet seien die Götterstunden, da Deine Seele
sich erhob zu dem, in dein alles ist, und in ihm schaute und sah, was in dein
Herzen des Menschen ist, und welche Höhe es erlangen kann, wenn es bei
dem Urquell der Kraft bleibt. . . . Freund Jesu und der Brüder! Trage die
schwachen Schafe, wie der Meister, und hilf ihnen fort. Zu unsrer Zeit ent¬
fernen sich manche sonst Gute aus Schwäche gegen den aus dem ganzen Weltton
und aus den schönsten Werten des Witzes allzu gewaltig übcrstürmendcn Strom
der Sinnenlüste, und andere, grade die zartesten Herzen aus Furcht, vor den
allerreinsten in unvollständig überwundenen Schwächen zu erscheinen; daher
sie sich lieber träg hinreißen lassen, und im Taumel Selbstvergessenheit suchen.
Auf der andern Seite wird hierüber nirgend so gelehrt, wie es der himmlischen
Reinheit würdig ist; so wie unsere Moral überhaupt ein elendes, gesetzliches,
judaistrendes Geschwätz ist, welches niemand halten kann, so wird auch hierüber
der Mensch nicht nach dem freien Evangeliumssinn geleitet, ohne ängstliche
Gesetzesfurcht nur das zu betrachten, daß nur in reinen Herzen die echte Liebe
und Christus wohnen kann, welche Hoheit, wie einig wahre Würde und Un-



") Mehr als er selbst glaubte. Jede dunkle Prophezeihung, auch die lächerlichste, machte
ihn betroffen; seine Aufmerksamkeit auf Zahlencombinntimien erinnert an eine Kartenschlagen».
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[0154] religion, bei der die äußern Formen eine lieber als die andere sein kann, keine aber zum Wesen gehört; die hcrzerhebendsten, und welche Gott und Menschen einander am nächsten bringen, sind freilich die besten." „Deine Be¬ trachtungen über die Brüdergemeinde sind wahr. Mit mir ists darin sonder¬ bar, daß ich einerseits für Mysticismus stark inclinire,*) andrerseits eine um überwindliche Abneigung gegen alles Enge, Einschränkende habe und intolerant bin nur gegen die Intoleranz. 1770, wo ich vom Glauben meiner Kindheit abfiel, war hauptsächlich die Ursache, weil man haben wollte, es sei kein Heil außer demselben; und nur die Verdammung der Griechen und Römer kann ich den Kirchenvätern nicht vergeben. Dieser Despotismus nun herrscht freilich auch bei den Brüdern, so wie fast allen Sekten (die deistischen oben an): darum werde ich sie allezeit lieben, wie unter allem Volk wer gut' ist, und ganz besonders wegen ihrer standhaften Tendenz auf den Mittelpunkt von allem; Jesum; aber nie zu ihnen treten; sonst könnte ich jene Universalhistorie nicht schreiben, denn wäre ich bei ihnen, so käme ich unter sie. vielleicht selbst auch durch zu viele Liebe." In dieser Stimmung schließt er sich schon seit 1786 immer enger an Lao n ter an, den er früher so verachtet. „Nun thut Lavaters Herz dem meinigen wohl. Sage ihm, daß ich seinen ganzen Gesang fühle und fast so stolz darauf sei, als wenn ich ihn gemacht hätte. In Wahrheit scheint er von einem Engel geschrieben." (Ul. Apr. 17-.W) Ihm selbst schreibt er, 4. Mai 1790: „Lavater! Bruder, Vater, Lehrer, Freund, oder was sonst Du mir sein willst, alles in unserm Herrn und Gott! Gesegnet seien die Götterstunden, da Deine Seele sich erhob zu dem, in dein alles ist, und in ihm schaute und sah, was in dein Herzen des Menschen ist, und welche Höhe es erlangen kann, wenn es bei dem Urquell der Kraft bleibt. . . . Freund Jesu und der Brüder! Trage die schwachen Schafe, wie der Meister, und hilf ihnen fort. Zu unsrer Zeit ent¬ fernen sich manche sonst Gute aus Schwäche gegen den aus dem ganzen Weltton und aus den schönsten Werten des Witzes allzu gewaltig übcrstürmendcn Strom der Sinnenlüste, und andere, grade die zartesten Herzen aus Furcht, vor den allerreinsten in unvollständig überwundenen Schwächen zu erscheinen; daher sie sich lieber träg hinreißen lassen, und im Taumel Selbstvergessenheit suchen. Auf der andern Seite wird hierüber nirgend so gelehrt, wie es der himmlischen Reinheit würdig ist; so wie unsere Moral überhaupt ein elendes, gesetzliches, judaistrendes Geschwätz ist, welches niemand halten kann, so wird auch hierüber der Mensch nicht nach dem freien Evangeliumssinn geleitet, ohne ängstliche Gesetzesfurcht nur das zu betrachten, daß nur in reinen Herzen die echte Liebe und Christus wohnen kann, welche Hoheit, wie einig wahre Würde und Un- ") Mehr als er selbst glaubte. Jede dunkle Prophezeihung, auch die lächerlichste, machte ihn betroffen; seine Aufmerksamkeit auf Zahlencombinntimien erinnert an eine Kartenschlagen».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/154>, abgerufen am 21.12.2024.