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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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alles declamiren und räsonniren hören über das Proletariat, daß man hätte
glauben sollen, das Elend sei erst mit den Dampfmaschinen in die Welt ge¬
kommen, während früher jeder sein behagliches Auskommen und Sonntags
sein Huhn im Topfe gehabt, und doch, obwol wir selbst theure Zeit durch¬
gemacht und in Schlesien, im Erzgebirge lind andern Strichen wirkliche
Hungersnot!) erlebt haben, reicht dies doch nicht an die Schilderungen der
Nothstände, wie sie im Mittelalter in jedem Jahrhundert vier bis fünfmal
vorkommen, um nur die schlimmsten hervorzuheben. Da steigt der Preis so
hoch, daß man Brötchen bäckt, so groß wie eine welsche Nuß oder wie ein
Taubenei oder wie ein Spindeiwirtel, und daß diese Marcusbrötchen. wie man
sie in Erfurt nannte. (Rai'"!,' Min", man but sie dann wol zur Erinnerung
an die Zeit als Zuckerbrötchen nach, daher der Name Marcipan) bis zu
ö Pfennige bezahlt wurden (I Pf. schlecht gerechnet 1 Sgr. unseres Geldes
gleich). Einmal sogar wird berichtet, man habe sür einen Ducaten kaum so
viel Brot bekommen, um sich einmal satt zu essen. Da starben die Menschen
massenweise vor Hunger, es heißt mehrfach ein Biertel, ein Drittel, die Hälfte,
ja selbst zwei Drittel der ganzen Einwohnerschaft eines Landes seien aus¬
gestorben; die Todten lagen überall ans den Straßen und Plähen umher,
so daß es schon für sehr preisenswerth galt, wenn ein Bischof dafür
sorgte, daß wenigstens die Todten begraben wurden, war es auch nnr, daß
dieselben massenweise in große Gruben geworfen wurden, viele noch halb
lebendig. Die Armen nährten sich da wol von Wurzeln und Kräutern, hüten
Brot aus Rinde, Eicheln, Tannzapfen, jn aus geriebenen Steinen. Andere
ließen dem Bich, was sie noch erhalten kommen, öfters zur Ader, um dessen
Blut zu genießen; sie leckten den Staub von den Mühlen auf; Hunde. Kahm,
Ratten galten für große Leckerbissen; man benagte sogar die Leichen, stahl
die Gehenkten von den Galgen, und am Ende fiele" die Menschen selbst über¬
einander her; Eltern tödteten ihre Kinder, Wirthe ihre Gastfreunde; es wurden
Leute hingerichtet, welche Menschenfleisch feilgeboten hatten; es gab förmliche
Räuberbanden, welche auf Menschen Jagd machten, um ihre Opfer dann zu
verspeisen. Nach der schrecklichen Hungersnoth. welche besonders in Ungarn
der Mongoleneinsall von 1241 veranlaßt, bekannte ein Mann in der Beichte,
er habe nack und nach Vtt Kinder und 8 Mönche geschlachtet. Man denke
nicht, das wir in dieser summarischen Darstellung aus ganz vereinzelten Fällen
ein stehendes Accidens einer Hungersnoth zu machen suchten; wir könnten aus
jedem Jahrhundert des Mittelalters von jeder bedeutenden Hungersnoth noch eine
ganze Reihe von Grellen anführen, wo die Chronisten die Größe der Noth
eben dadurch zu schildern suchen, daß sie von solchem kannibalischen Wüthen
der Menschen gegeneinander berichten. Ebenso wenig blieben solche fürchter¬
liche Zustände auf Länder beschränkt, denen die Natur einen weniger frucht-


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alles declamiren und räsonniren hören über das Proletariat, daß man hätte
glauben sollen, das Elend sei erst mit den Dampfmaschinen in die Welt ge¬
kommen, während früher jeder sein behagliches Auskommen und Sonntags
sein Huhn im Topfe gehabt, und doch, obwol wir selbst theure Zeit durch¬
gemacht und in Schlesien, im Erzgebirge lind andern Strichen wirkliche
Hungersnot!) erlebt haben, reicht dies doch nicht an die Schilderungen der
Nothstände, wie sie im Mittelalter in jedem Jahrhundert vier bis fünfmal
vorkommen, um nur die schlimmsten hervorzuheben. Da steigt der Preis so
hoch, daß man Brötchen bäckt, so groß wie eine welsche Nuß oder wie ein
Taubenei oder wie ein Spindeiwirtel, und daß diese Marcusbrötchen. wie man
sie in Erfurt nannte. (Rai'«!,' Min», man but sie dann wol zur Erinnerung
an die Zeit als Zuckerbrötchen nach, daher der Name Marcipan) bis zu
ö Pfennige bezahlt wurden (I Pf. schlecht gerechnet 1 Sgr. unseres Geldes
gleich). Einmal sogar wird berichtet, man habe sür einen Ducaten kaum so
viel Brot bekommen, um sich einmal satt zu essen. Da starben die Menschen
massenweise vor Hunger, es heißt mehrfach ein Biertel, ein Drittel, die Hälfte,
ja selbst zwei Drittel der ganzen Einwohnerschaft eines Landes seien aus¬
gestorben; die Todten lagen überall ans den Straßen und Plähen umher,
so daß es schon für sehr preisenswerth galt, wenn ein Bischof dafür
sorgte, daß wenigstens die Todten begraben wurden, war es auch nnr, daß
dieselben massenweise in große Gruben geworfen wurden, viele noch halb
lebendig. Die Armen nährten sich da wol von Wurzeln und Kräutern, hüten
Brot aus Rinde, Eicheln, Tannzapfen, jn aus geriebenen Steinen. Andere
ließen dem Bich, was sie noch erhalten kommen, öfters zur Ader, um dessen
Blut zu genießen; sie leckten den Staub von den Mühlen auf; Hunde. Kahm,
Ratten galten für große Leckerbissen; man benagte sogar die Leichen, stahl
die Gehenkten von den Galgen, und am Ende fiele» die Menschen selbst über¬
einander her; Eltern tödteten ihre Kinder, Wirthe ihre Gastfreunde; es wurden
Leute hingerichtet, welche Menschenfleisch feilgeboten hatten; es gab förmliche
Räuberbanden, welche auf Menschen Jagd machten, um ihre Opfer dann zu
verspeisen. Nach der schrecklichen Hungersnoth. welche besonders in Ungarn
der Mongoleneinsall von 1241 veranlaßt, bekannte ein Mann in der Beichte,
er habe nack und nach Vtt Kinder und 8 Mönche geschlachtet. Man denke
nicht, das wir in dieser summarischen Darstellung aus ganz vereinzelten Fällen
ein stehendes Accidens einer Hungersnoth zu machen suchten; wir könnten aus
jedem Jahrhundert des Mittelalters von jeder bedeutenden Hungersnoth noch eine
ganze Reihe von Grellen anführen, wo die Chronisten die Größe der Noth
eben dadurch zu schildern suchen, daß sie von solchem kannibalischen Wüthen
der Menschen gegeneinander berichten. Ebenso wenig blieben solche fürchter¬
liche Zustände auf Länder beschränkt, denen die Natur einen weniger frucht-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/115>, abgerufen am 30.12.2024.