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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Sicht der Tod an eurer Schwelle still,

Fragt ihr bebend! wen er rufen will.

Wir auch kommen aus der Todten Land,

Aber nur zum Segen hergesandt.

Jesus Christus, unser Herr und Hort.

Schickt als Mahner uns an diesen Ort.

Wachet auf! jetzt ist nicht Schlafenszeit.

Wachet auf! zu beten seid bereit.

Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund,

Mitleid, Mitleid fordert unser Mund.

Seht, was bleibt von aller Erdenpracht,

Nur fünf Breter in des Grabes Nacht.

Nur die Rasendecke feucht und schwer,

Nur ein Häuflein Stroh und sonst nichts mehr.

Als ich noch auf Erden glücklich war,

Drängte sich um mich der Freunde Schar,

Seit ich kostete des Todes Pein,

Bin ich ach! vergessen und allein.

Brüder, Eltern, Freunde allzumal,

O erbarme euch meiner Angst und Qual!

Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund,

Mitleid, Mitleid fordert unser Mund.*)


Langsam gehen die Sänger vorüber; Wort und Melodie verhallen in der
Ferne, aber jeder, der die herzzerreißende Klage hört, gelobt, noch mehr als
sonst für seine Todten zu beten.

Endlich wird es still im Dorfe; die Armen haben den Rundgang voll¬
endet --- für den sie am nächsten Morgen alles erhalten, was die "Seelen"
an Speise und Trank übrig lassen ---, die Trauernden haben sich in den
Schlaf geweint, und bis die Glocken zur Frühmette rufen tonnen die Gespenster
ungestört ihr Wesen treiben.

Ein bretagnisches Sprichwort sagt: das; in dieser Nacht mehr arme
Seelen in der Luft zusammengedrängt sind, als welke Blätter am Boden
liegen. Wer zu den "Begabten" gehört, kann sie sehen, wie sie in weißer,
nebelhafter Gestalt um die Gräber tanzen, um die Kränze zu betrachten, die
man ihnen geweiht hat; wie sie aus einem Hause ins andere huschen; wie
sie durch Felder und Wiesen gehen, ihre Lieblingsplätze aufzusuchen; wie sie
in Scharen über die Haide ziehen, den Stätten zu, wo sie im Kampfe ge¬
fallen sind, oder wie sie aus dem Meere aussteigend mit triefendem Haar und
trostloser Geberde am Ufer irren, weil niemand für sie gebetet hat.



") Das Original dieses Liedes ,Aimg.o>isii s,um ^n-wu", das besonders im Bezirk von
Cornvuaille gesungen wird, ist in de >a Villeinarquvs Sammlung ^^"8-1!^ enthalten.

Sicht der Tod an eurer Schwelle still,

Fragt ihr bebend! wen er rufen will.

Wir auch kommen aus der Todten Land,

Aber nur zum Segen hergesandt.

Jesus Christus, unser Herr und Hort.

Schickt als Mahner uns an diesen Ort.

Wachet auf! jetzt ist nicht Schlafenszeit.

Wachet auf! zu beten seid bereit.

Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund,

Mitleid, Mitleid fordert unser Mund.

Seht, was bleibt von aller Erdenpracht,

Nur fünf Breter in des Grabes Nacht.

Nur die Rasendecke feucht und schwer,

Nur ein Häuflein Stroh und sonst nichts mehr.

Als ich noch auf Erden glücklich war,

Drängte sich um mich der Freunde Schar,

Seit ich kostete des Todes Pein,

Bin ich ach! vergessen und allein.

Brüder, Eltern, Freunde allzumal,

O erbarme euch meiner Angst und Qual!

Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund,

Mitleid, Mitleid fordert unser Mund.*)


Langsam gehen die Sänger vorüber; Wort und Melodie verhallen in der
Ferne, aber jeder, der die herzzerreißende Klage hört, gelobt, noch mehr als
sonst für seine Todten zu beten.

Endlich wird es still im Dorfe; die Armen haben den Rundgang voll¬
endet -— für den sie am nächsten Morgen alles erhalten, was die „Seelen"
an Speise und Trank übrig lassen —-, die Trauernden haben sich in den
Schlaf geweint, und bis die Glocken zur Frühmette rufen tonnen die Gespenster
ungestört ihr Wesen treiben.

Ein bretagnisches Sprichwort sagt: das; in dieser Nacht mehr arme
Seelen in der Luft zusammengedrängt sind, als welke Blätter am Boden
liegen. Wer zu den „Begabten" gehört, kann sie sehen, wie sie in weißer,
nebelhafter Gestalt um die Gräber tanzen, um die Kränze zu betrachten, die
man ihnen geweiht hat; wie sie aus einem Hause ins andere huschen; wie
sie durch Felder und Wiesen gehen, ihre Lieblingsplätze aufzusuchen; wie sie
in Scharen über die Haide ziehen, den Stätten zu, wo sie im Kampfe ge¬
fallen sind, oder wie sie aus dem Meere aussteigend mit triefendem Haar und
trostloser Geberde am Ufer irren, weil niemand für sie gebetet hat.



") Das Original dieses Liedes ,Aimg.o>isii s,um ^n-wu", das besonders im Bezirk von
Cornvuaille gesungen wird, ist in de >a Villeinarquvs Sammlung ^^»8-1!^ enthalten.
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[0474] Sicht der Tod an eurer Schwelle still, Fragt ihr bebend! wen er rufen will. Wir auch kommen aus der Todten Land, Aber nur zum Segen hergesandt. Jesus Christus, unser Herr und Hort. Schickt als Mahner uns an diesen Ort. Wachet auf! jetzt ist nicht Schlafenszeit. Wachet auf! zu beten seid bereit. Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund, Mitleid, Mitleid fordert unser Mund. Seht, was bleibt von aller Erdenpracht, Nur fünf Breter in des Grabes Nacht. Nur die Rasendecke feucht und schwer, Nur ein Häuflein Stroh und sonst nichts mehr. Als ich noch auf Erden glücklich war, Drängte sich um mich der Freunde Schar, Seit ich kostete des Todes Pein, Bin ich ach! vergessen und allein. Brüder, Eltern, Freunde allzumal, O erbarme euch meiner Angst und Qual! Ach! wir kommen aus des Feuers Schlund, Mitleid, Mitleid fordert unser Mund.*) Langsam gehen die Sänger vorüber; Wort und Melodie verhallen in der Ferne, aber jeder, der die herzzerreißende Klage hört, gelobt, noch mehr als sonst für seine Todten zu beten. Endlich wird es still im Dorfe; die Armen haben den Rundgang voll¬ endet -— für den sie am nächsten Morgen alles erhalten, was die „Seelen" an Speise und Trank übrig lassen —-, die Trauernden haben sich in den Schlaf geweint, und bis die Glocken zur Frühmette rufen tonnen die Gespenster ungestört ihr Wesen treiben. Ein bretagnisches Sprichwort sagt: das; in dieser Nacht mehr arme Seelen in der Luft zusammengedrängt sind, als welke Blätter am Boden liegen. Wer zu den „Begabten" gehört, kann sie sehen, wie sie in weißer, nebelhafter Gestalt um die Gräber tanzen, um die Kränze zu betrachten, die man ihnen geweiht hat; wie sie aus einem Hause ins andere huschen; wie sie durch Felder und Wiesen gehen, ihre Lieblingsplätze aufzusuchen; wie sie in Scharen über die Haide ziehen, den Stätten zu, wo sie im Kampfe ge¬ fallen sind, oder wie sie aus dem Meere aussteigend mit triefendem Haar und trostloser Geberde am Ufer irren, weil niemand für sie gebetet hat. ") Das Original dieses Liedes ,Aimg.o>isii s,um ^n-wu", das besonders im Bezirk von Cornvuaille gesungen wird, ist in de >a Villeinarquvs Sammlung ^^»8-1!^ enthalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/474>, abgerufen am 08.01.2025.