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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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tcstantisches Blatt gab großes Aergerniß, und Marheineke beeilte sich im fol¬
genden Jahrgang bei dem Erscheinen der beiden folgenden Bände der Stol¬
bergischen Religionsgeschichte die Einseitigkeiten der ersten Kritik zu ergänzen.
Er spricht über Stolberg und Schlegel sehr höflich, aber doch fast nie ohne
ironische Beimischung. "Der Hauptcharakter des Stolbergischen Werkes ist
Frömmigkeit und eine so gediegene Gottseligkeit, daß ihr zur Noth alles
Uebrige, selbst die Wissenschaft und Kritik ohne Aufopferung leicht zum Opfer
geweihet wird. Diese Innigkeit des religiösen Lebens und Empfindens, die¬
ser in jeglicher Anschauung zum Himmel gerichtete und geweihte Blick, diese
schöne fruchtbare und tiefe, auch aus dem Kleinsten kräftige Nahrung saugende
Bekanntschaft mit der heil. Schrift scheinet uns der höchste Charakter dieses
Werkes zu sein, und zugleich das eigentliche Moment, wodurch es auch seine
nothwendige Stelle behauptet in dieser Zeit und im Verhältniß zur theologischen
Wissenschaft." "Daneben aber findet man in dem Buch eine ganz unglaub¬
liche Unkritik, wie man sie am wenigsten von einem so edeln und viel¬
seitig gebildeten Geiste erwarten sollte, eine Eigenschaft, die an dieser Schrift
doppelt verführerisch ist, da übrigens doch nicht blos der Schein gründ¬
licher Untersuchung, sondern wirklich kritische und gelehrte Bemühung, zu¬
mal in den Beilagen, ganz unverkennbar ist und dem Buche sehr zur
Empfehlung gereicht. In der Orthodoxie geht Stolberg über die Kirchen¬
väter hinaus und die Methode seiner historischen Kritik schmeckt ebenfalls
nach dem 13. Jahrhundert. Die schlimmste Seite des Buchs ist aber
der kleinliche psnffische Haß, nicht blos gegen den Protestantismus, son¬
dern gegen jede Art der Philosophie und freien Forschung. Dieser Haß
findet sich auch bei Schlegel, wenn auch in höflicheren Formen. Auch ersieht
im Protestantismus lediglich die negative polemische Seite, da sich doch diese
in jeder Kirche findet. -- Trotz seines Protestes gegen die blos ästhetische Auf¬
fassung der Religionen, macht Schlegel doch immer nur auf die harmonische
Einheit der katholischen Kirche aufmerksam und vergißt dabei, daß schon früher
eine noch schönere, auch durch das Wesen bestimmte Form existirte, die grie¬
chische, und doch wurden die Griechen ihrer Nationalreligion entsagend Christen.
"So lange des Wesens Göttlichkeit dem Christen genügt, bedarf er keiner
sinnlichen Form. Erst wenn der Geist erkaltet und das geistige Auge erstirbt
-- erst dann wirft sich das Bedürfniß nach außen, begehrt für den Sinn die
Anschauung des Wesens ganz und gar in einer verkörperten Form, und befrie¬
digt sich in ihr, oder macht sie doch zur Bedingung für die Erwärmung des
erloschenen Geistes. -- Der Zeitpunkt also, in welchem das Bedürfniß gefühlt
wird, die Form einer Religion zu versinnlichen, ist der Zeitpunkt einer Irre¬
ligiosität, welche nothwendig sich selbst vernichtet, indem sie einen Cultus
hervorruft, durch welchen früh oder spät der Mensch auf eine Stufe erhoben


tcstantisches Blatt gab großes Aergerniß, und Marheineke beeilte sich im fol¬
genden Jahrgang bei dem Erscheinen der beiden folgenden Bände der Stol¬
bergischen Religionsgeschichte die Einseitigkeiten der ersten Kritik zu ergänzen.
Er spricht über Stolberg und Schlegel sehr höflich, aber doch fast nie ohne
ironische Beimischung. „Der Hauptcharakter des Stolbergischen Werkes ist
Frömmigkeit und eine so gediegene Gottseligkeit, daß ihr zur Noth alles
Uebrige, selbst die Wissenschaft und Kritik ohne Aufopferung leicht zum Opfer
geweihet wird. Diese Innigkeit des religiösen Lebens und Empfindens, die¬
ser in jeglicher Anschauung zum Himmel gerichtete und geweihte Blick, diese
schöne fruchtbare und tiefe, auch aus dem Kleinsten kräftige Nahrung saugende
Bekanntschaft mit der heil. Schrift scheinet uns der höchste Charakter dieses
Werkes zu sein, und zugleich das eigentliche Moment, wodurch es auch seine
nothwendige Stelle behauptet in dieser Zeit und im Verhältniß zur theologischen
Wissenschaft." „Daneben aber findet man in dem Buch eine ganz unglaub¬
liche Unkritik, wie man sie am wenigsten von einem so edeln und viel¬
seitig gebildeten Geiste erwarten sollte, eine Eigenschaft, die an dieser Schrift
doppelt verführerisch ist, da übrigens doch nicht blos der Schein gründ¬
licher Untersuchung, sondern wirklich kritische und gelehrte Bemühung, zu¬
mal in den Beilagen, ganz unverkennbar ist und dem Buche sehr zur
Empfehlung gereicht. In der Orthodoxie geht Stolberg über die Kirchen¬
väter hinaus und die Methode seiner historischen Kritik schmeckt ebenfalls
nach dem 13. Jahrhundert. Die schlimmste Seite des Buchs ist aber
der kleinliche psnffische Haß, nicht blos gegen den Protestantismus, son¬
dern gegen jede Art der Philosophie und freien Forschung. Dieser Haß
findet sich auch bei Schlegel, wenn auch in höflicheren Formen. Auch ersieht
im Protestantismus lediglich die negative polemische Seite, da sich doch diese
in jeder Kirche findet. — Trotz seines Protestes gegen die blos ästhetische Auf¬
fassung der Religionen, macht Schlegel doch immer nur auf die harmonische
Einheit der katholischen Kirche aufmerksam und vergißt dabei, daß schon früher
eine noch schönere, auch durch das Wesen bestimmte Form existirte, die grie¬
chische, und doch wurden die Griechen ihrer Nationalreligion entsagend Christen.
„So lange des Wesens Göttlichkeit dem Christen genügt, bedarf er keiner
sinnlichen Form. Erst wenn der Geist erkaltet und das geistige Auge erstirbt
— erst dann wirft sich das Bedürfniß nach außen, begehrt für den Sinn die
Anschauung des Wesens ganz und gar in einer verkörperten Form, und befrie¬
digt sich in ihr, oder macht sie doch zur Bedingung für die Erwärmung des
erloschenen Geistes. — Der Zeitpunkt also, in welchem das Bedürfniß gefühlt
wird, die Form einer Religion zu versinnlichen, ist der Zeitpunkt einer Irre¬
ligiosität, welche nothwendig sich selbst vernichtet, indem sie einen Cultus
hervorruft, durch welchen früh oder spät der Mensch auf eine Stufe erhoben


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[0424] tcstantisches Blatt gab großes Aergerniß, und Marheineke beeilte sich im fol¬ genden Jahrgang bei dem Erscheinen der beiden folgenden Bände der Stol¬ bergischen Religionsgeschichte die Einseitigkeiten der ersten Kritik zu ergänzen. Er spricht über Stolberg und Schlegel sehr höflich, aber doch fast nie ohne ironische Beimischung. „Der Hauptcharakter des Stolbergischen Werkes ist Frömmigkeit und eine so gediegene Gottseligkeit, daß ihr zur Noth alles Uebrige, selbst die Wissenschaft und Kritik ohne Aufopferung leicht zum Opfer geweihet wird. Diese Innigkeit des religiösen Lebens und Empfindens, die¬ ser in jeglicher Anschauung zum Himmel gerichtete und geweihte Blick, diese schöne fruchtbare und tiefe, auch aus dem Kleinsten kräftige Nahrung saugende Bekanntschaft mit der heil. Schrift scheinet uns der höchste Charakter dieses Werkes zu sein, und zugleich das eigentliche Moment, wodurch es auch seine nothwendige Stelle behauptet in dieser Zeit und im Verhältniß zur theologischen Wissenschaft." „Daneben aber findet man in dem Buch eine ganz unglaub¬ liche Unkritik, wie man sie am wenigsten von einem so edeln und viel¬ seitig gebildeten Geiste erwarten sollte, eine Eigenschaft, die an dieser Schrift doppelt verführerisch ist, da übrigens doch nicht blos der Schein gründ¬ licher Untersuchung, sondern wirklich kritische und gelehrte Bemühung, zu¬ mal in den Beilagen, ganz unverkennbar ist und dem Buche sehr zur Empfehlung gereicht. In der Orthodoxie geht Stolberg über die Kirchen¬ väter hinaus und die Methode seiner historischen Kritik schmeckt ebenfalls nach dem 13. Jahrhundert. Die schlimmste Seite des Buchs ist aber der kleinliche psnffische Haß, nicht blos gegen den Protestantismus, son¬ dern gegen jede Art der Philosophie und freien Forschung. Dieser Haß findet sich auch bei Schlegel, wenn auch in höflicheren Formen. Auch ersieht im Protestantismus lediglich die negative polemische Seite, da sich doch diese in jeder Kirche findet. — Trotz seines Protestes gegen die blos ästhetische Auf¬ fassung der Religionen, macht Schlegel doch immer nur auf die harmonische Einheit der katholischen Kirche aufmerksam und vergißt dabei, daß schon früher eine noch schönere, auch durch das Wesen bestimmte Form existirte, die grie¬ chische, und doch wurden die Griechen ihrer Nationalreligion entsagend Christen. „So lange des Wesens Göttlichkeit dem Christen genügt, bedarf er keiner sinnlichen Form. Erst wenn der Geist erkaltet und das geistige Auge erstirbt — erst dann wirft sich das Bedürfniß nach außen, begehrt für den Sinn die Anschauung des Wesens ganz und gar in einer verkörperten Form, und befrie¬ digt sich in ihr, oder macht sie doch zur Bedingung für die Erwärmung des erloschenen Geistes. — Der Zeitpunkt also, in welchem das Bedürfniß gefühlt wird, die Form einer Religion zu versinnlichen, ist der Zeitpunkt einer Irre¬ ligiosität, welche nothwendig sich selbst vernichtet, indem sie einen Cultus hervorruft, durch welchen früh oder spät der Mensch auf eine Stufe erhoben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/424>, abgerufen am 03.07.2024.