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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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wird, ungestört dem blindesten Aberglauben stöhnen, oder sich dem frechsten
Unglauben ergeben darf: jeder steht und fällt seinem Herrn. -- Allein objec¬
tiv ist Religion ein Eigenthum der Gesellschaft, zu deren Gliedern der Ein¬
zelne gehört, und über sie, in dieser ihrer Objektivität, steht keinem Ein¬
zelnen, außer der Theilnahme an ihr, irgend ein Recht zu. Wahrhaft ob¬
jectiv aber ist die Religion nur, insofern sie das gemeinschaftliche und höchste
Gut eines Volkes in seiner Einheit und Totalität^ ist. Jedes Volk hat
seine Religion, denn sie gehört zu seinem Wesen und Dasein; und wenn
also auch mehren Völkern eine und die nämliche Religion gemeinschaftlich ist,
so kann doch jedes von ihnen dieselbe nur unter derjenigen Form besitzen, die
seinem besondern Charakter die angemessenste ist. Leere Begriffe aber sind
es, aus denen bald von einer allgemeinen oder katholischen Religion in dem
Sinn, als könne und solle sie unter ein und der nämlichen Form die Reli¬
gion aller Völker und des gesammten Menschengeschlechts werden; bald hin¬
gegen von mehren durch Gott offenbarten und selbst ihrem Inhalt nach ver¬
schiedenen Religionen geredet wird: denn sind Form und Gestalt der Religion
nicht ins Unendliche verschieden, so kann sie selbst nicht wahrhaft objectiv,
und ist sie ihrem Wesen nach nicht absolut eine und dieselbe, so kann sie
nicht Religion sein." -- Worin der Irrthum dieser Auseinandersetzung liegt, ist
leicht ersichtlich. In der That ist jedes Volk in der Lage, auch diejenige Re¬
ligion, die ihm von auswärts überliefert wird, nach seinen Bedürfnissen und
Eigenthümlichkeiten zu modificiren; allein was vom Proceß der Unbildung
gilt, hat Daub als einen fertigen Zustand aufgefaßt, und aus dem Recht des
Volkes, sich seine Religion zu bestimmen, die Pflicht des Einzelnen hergelei¬
tet, sich nach derselben zu richten: die Heterodoxie d. h. die Abweichung von
der Religion des Volkes, denn eine andere gibt es nicht, ist zugleich eine
Verletzung des Patriotismus. Noch seltsamer erscheint, wie Daub die Recht¬
gläubigkeit des deutschen Volkes entwickelt. Bei den übrigen Völkern herrscht
entweder der Protestantismus oder der Katholicismus d. h. entweder das
Uebergewicht der Doctrin oder das Uebergewicht des Cultus. In Deutschland
dagegen bestehen beide nebeneinander und der wahrhafte Glaube des deut¬
schen Volkes liegt darin, daß beide gleichberechtigt sind. Orthodox ist in
Deutschland derjenige, der die Trennung der beiden Kirchen und die gleiche
Berechtigung beider als nothwendig begreift; heterodox d. h. dem Glauben
des Volkes widersprechend, sowol derjenige, welcher der einen über die andere
das Uebergewicht verschaffen, als derjenige, der beide zu einer Kirche verschmel¬
zen will. Deutschland hat nur eine Kirche unter der zweifachen Form des Katho¬
licismus und des Protestantismus und diese Kirche hat unter jeder dieser For¬
men gleiche Rechte. Während bei allen übrigen Völkern die eine oder die
andere wesentliche Form des Christenthums einseitig ausgebildet ist, ist Deutsch-


wird, ungestört dem blindesten Aberglauben stöhnen, oder sich dem frechsten
Unglauben ergeben darf: jeder steht und fällt seinem Herrn. — Allein objec¬
tiv ist Religion ein Eigenthum der Gesellschaft, zu deren Gliedern der Ein¬
zelne gehört, und über sie, in dieser ihrer Objektivität, steht keinem Ein¬
zelnen, außer der Theilnahme an ihr, irgend ein Recht zu. Wahrhaft ob¬
jectiv aber ist die Religion nur, insofern sie das gemeinschaftliche und höchste
Gut eines Volkes in seiner Einheit und Totalität^ ist. Jedes Volk hat
seine Religion, denn sie gehört zu seinem Wesen und Dasein; und wenn
also auch mehren Völkern eine und die nämliche Religion gemeinschaftlich ist,
so kann doch jedes von ihnen dieselbe nur unter derjenigen Form besitzen, die
seinem besondern Charakter die angemessenste ist. Leere Begriffe aber sind
es, aus denen bald von einer allgemeinen oder katholischen Religion in dem
Sinn, als könne und solle sie unter ein und der nämlichen Form die Reli¬
gion aller Völker und des gesammten Menschengeschlechts werden; bald hin¬
gegen von mehren durch Gott offenbarten und selbst ihrem Inhalt nach ver¬
schiedenen Religionen geredet wird: denn sind Form und Gestalt der Religion
nicht ins Unendliche verschieden, so kann sie selbst nicht wahrhaft objectiv,
und ist sie ihrem Wesen nach nicht absolut eine und dieselbe, so kann sie
nicht Religion sein." — Worin der Irrthum dieser Auseinandersetzung liegt, ist
leicht ersichtlich. In der That ist jedes Volk in der Lage, auch diejenige Re¬
ligion, die ihm von auswärts überliefert wird, nach seinen Bedürfnissen und
Eigenthümlichkeiten zu modificiren; allein was vom Proceß der Unbildung
gilt, hat Daub als einen fertigen Zustand aufgefaßt, und aus dem Recht des
Volkes, sich seine Religion zu bestimmen, die Pflicht des Einzelnen hergelei¬
tet, sich nach derselben zu richten: die Heterodoxie d. h. die Abweichung von
der Religion des Volkes, denn eine andere gibt es nicht, ist zugleich eine
Verletzung des Patriotismus. Noch seltsamer erscheint, wie Daub die Recht¬
gläubigkeit des deutschen Volkes entwickelt. Bei den übrigen Völkern herrscht
entweder der Protestantismus oder der Katholicismus d. h. entweder das
Uebergewicht der Doctrin oder das Uebergewicht des Cultus. In Deutschland
dagegen bestehen beide nebeneinander und der wahrhafte Glaube des deut¬
schen Volkes liegt darin, daß beide gleichberechtigt sind. Orthodox ist in
Deutschland derjenige, der die Trennung der beiden Kirchen und die gleiche
Berechtigung beider als nothwendig begreift; heterodox d. h. dem Glauben
des Volkes widersprechend, sowol derjenige, welcher der einen über die andere
das Uebergewicht verschaffen, als derjenige, der beide zu einer Kirche verschmel¬
zen will. Deutschland hat nur eine Kirche unter der zweifachen Form des Katho¬
licismus und des Protestantismus und diese Kirche hat unter jeder dieser For¬
men gleiche Rechte. Während bei allen übrigen Völkern die eine oder die
andere wesentliche Form des Christenthums einseitig ausgebildet ist, ist Deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/412>, abgerufen am 23.07.2024.