Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht mehr außer dem Bereich zerstörender Geschosse, die aus der Entfernung
einer halben Meile abgefeuert werden.

Fragen wir jetzt, was England von Cherbourg zu fürchten hat, so ist die
Antwort: für die Gegenwart sicher nichts und am wenigsten einen Ueberfall
mit einer Jnvasionsarmee. Die Festungswerke sind, wie erwähnt, nur zum
Theil vollendet. Es gibt nur eine Eisenbahn, die nach der Stadt führt, und
diese hat bis jetzt nur ein Geleis. Ein Zug von tausend Passagieren ist schon
ein ungewöhnlich starker, und die Fahrt zwischen Cherbourg und Paris nimmt
zehn Stunden in Anspruch. Die drei Hafenbecken der Militärstadt zeigen
allerdings eine große Strecke von Kai, an der gegen fünfzig Dampfer zu glei¬
cher Zeit Truppen einnehmen könnten, aber schließlich würden die Schiffe doch
allesammt durch denselben engen Paß in See gehen müssen, und so erhebt
sich ein zweiter gegründeter Einwurf gegen die Möglichkeit einer Ueberraschung
Englands durch eine an seiner Küste lautende französische Armee. Aber sei
dem wie ihm wolle, England hat kein Recht, mit Frankreich über das zu
grollen, was dieses an seiner eignen Küste zu thun beliebt, ebenso wenig Recht
als Frankreich zum Einspruch hätte, wenn man jetzt eine tüchtige Kanaiflotte
in England für Bedürfniß hielte. Im Hinblick auf eine solche Flotte, die
ruhig aber stolz zwischen Plymouth und Portsmouth sich von den Wogen schau¬
keln ließe, könnten die Unterthanen der Königin Victoria so gelassen nach der
Küste der Normandie hinüberblicken, als ob der Sieg von Kap La Hogue erst
gestern erfochten worden wäre. Denn noch immer ist der britische Seemann
der erste in Europa, und noch immer und trotz mancher Einreden beherrscht
Britannien die See.

Möglich ist, daß die Zukunft hierin manches ändert, gewiß, daß der
Charakter Cherbourgs nicht defensiv, sondern aggressiv ist. Seine Anlagen
sind viel zu großartig, um zu den Erfordernissen einer bloßen Vertheidigung
gegen eine fremde Flotte oder Armee im Verhältniß zu stehen. Wer sich eine
richtige Ansicht über die wirkliche Bedeutung Cherbourgs für die Zukunft bil¬
den will, mag Thiers über Napoleons Vorbereitungen zu einer Landung in
England von Boulogne aus lesen. Napoleons Hauptklage war bei dieser
Gelegenheit, daß es ihm an geräumigen Hafen fehlte, in denen er seine Vor¬
bereitungen unter dem Schutze einer großen Armee treffen konnte. Cherbourg
ist erbaut, um diesem Mangel abzuhelfen. Seine Rhede kann einer größern
Flotte, als Frankreich je eine besessen, Zuflucht gewähren und dazu noch die
Transportschiffe ausnehmen, welche zur Beförderung von hunderttausend Mann
nebst Pferden, Geschützen und Gepäck sür einen Feldzug nöthig sind. Auf
dem Lande stehen ungeheure Kasernen, andere sind im Bau begriffen, und
die Umgegend gibt Raum genug, um an verschiedenen passenden Orten Feld¬
lager zu errichten. Wie sehr man daher auch den Gedanken verwerfen mag,


nicht mehr außer dem Bereich zerstörender Geschosse, die aus der Entfernung
einer halben Meile abgefeuert werden.

Fragen wir jetzt, was England von Cherbourg zu fürchten hat, so ist die
Antwort: für die Gegenwart sicher nichts und am wenigsten einen Ueberfall
mit einer Jnvasionsarmee. Die Festungswerke sind, wie erwähnt, nur zum
Theil vollendet. Es gibt nur eine Eisenbahn, die nach der Stadt führt, und
diese hat bis jetzt nur ein Geleis. Ein Zug von tausend Passagieren ist schon
ein ungewöhnlich starker, und die Fahrt zwischen Cherbourg und Paris nimmt
zehn Stunden in Anspruch. Die drei Hafenbecken der Militärstadt zeigen
allerdings eine große Strecke von Kai, an der gegen fünfzig Dampfer zu glei¬
cher Zeit Truppen einnehmen könnten, aber schließlich würden die Schiffe doch
allesammt durch denselben engen Paß in See gehen müssen, und so erhebt
sich ein zweiter gegründeter Einwurf gegen die Möglichkeit einer Ueberraschung
Englands durch eine an seiner Küste lautende französische Armee. Aber sei
dem wie ihm wolle, England hat kein Recht, mit Frankreich über das zu
grollen, was dieses an seiner eignen Küste zu thun beliebt, ebenso wenig Recht
als Frankreich zum Einspruch hätte, wenn man jetzt eine tüchtige Kanaiflotte
in England für Bedürfniß hielte. Im Hinblick auf eine solche Flotte, die
ruhig aber stolz zwischen Plymouth und Portsmouth sich von den Wogen schau¬
keln ließe, könnten die Unterthanen der Königin Victoria so gelassen nach der
Küste der Normandie hinüberblicken, als ob der Sieg von Kap La Hogue erst
gestern erfochten worden wäre. Denn noch immer ist der britische Seemann
der erste in Europa, und noch immer und trotz mancher Einreden beherrscht
Britannien die See.

Möglich ist, daß die Zukunft hierin manches ändert, gewiß, daß der
Charakter Cherbourgs nicht defensiv, sondern aggressiv ist. Seine Anlagen
sind viel zu großartig, um zu den Erfordernissen einer bloßen Vertheidigung
gegen eine fremde Flotte oder Armee im Verhältniß zu stehen. Wer sich eine
richtige Ansicht über die wirkliche Bedeutung Cherbourgs für die Zukunft bil¬
den will, mag Thiers über Napoleons Vorbereitungen zu einer Landung in
England von Boulogne aus lesen. Napoleons Hauptklage war bei dieser
Gelegenheit, daß es ihm an geräumigen Hafen fehlte, in denen er seine Vor¬
bereitungen unter dem Schutze einer großen Armee treffen konnte. Cherbourg
ist erbaut, um diesem Mangel abzuhelfen. Seine Rhede kann einer größern
Flotte, als Frankreich je eine besessen, Zuflucht gewähren und dazu noch die
Transportschiffe ausnehmen, welche zur Beförderung von hunderttausend Mann
nebst Pferden, Geschützen und Gepäck sür einen Feldzug nöthig sind. Auf
dem Lande stehen ungeheure Kasernen, andere sind im Bau begriffen, und
die Umgegend gibt Raum genug, um an verschiedenen passenden Orten Feld¬
lager zu errichten. Wie sehr man daher auch den Gedanken verwerfen mag,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/106136"/>
          <p xml:id="ID_884" prev="#ID_883"> nicht mehr außer dem Bereich zerstörender Geschosse, die aus der Entfernung<lb/>
einer halben Meile abgefeuert werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_885"> Fragen wir jetzt, was England von Cherbourg zu fürchten hat, so ist die<lb/>
Antwort: für die Gegenwart sicher nichts und am wenigsten einen Ueberfall<lb/>
mit einer Jnvasionsarmee. Die Festungswerke sind, wie erwähnt, nur zum<lb/>
Theil vollendet. Es gibt nur eine Eisenbahn, die nach der Stadt führt, und<lb/>
diese hat bis jetzt nur ein Geleis. Ein Zug von tausend Passagieren ist schon<lb/>
ein ungewöhnlich starker, und die Fahrt zwischen Cherbourg und Paris nimmt<lb/>
zehn Stunden in Anspruch. Die drei Hafenbecken der Militärstadt zeigen<lb/>
allerdings eine große Strecke von Kai, an der gegen fünfzig Dampfer zu glei¬<lb/>
cher Zeit Truppen einnehmen könnten, aber schließlich würden die Schiffe doch<lb/>
allesammt durch denselben engen Paß in See gehen müssen, und so erhebt<lb/>
sich ein zweiter gegründeter Einwurf gegen die Möglichkeit einer Ueberraschung<lb/>
Englands durch eine an seiner Küste lautende französische Armee. Aber sei<lb/>
dem wie ihm wolle, England hat kein Recht, mit Frankreich über das zu<lb/>
grollen, was dieses an seiner eignen Küste zu thun beliebt, ebenso wenig Recht<lb/>
als Frankreich zum Einspruch hätte, wenn man jetzt eine tüchtige Kanaiflotte<lb/>
in England für Bedürfniß hielte. Im Hinblick auf eine solche Flotte, die<lb/>
ruhig aber stolz zwischen Plymouth und Portsmouth sich von den Wogen schau¬<lb/>
keln ließe, könnten die Unterthanen der Königin Victoria so gelassen nach der<lb/>
Küste der Normandie hinüberblicken, als ob der Sieg von Kap La Hogue erst<lb/>
gestern erfochten worden wäre. Denn noch immer ist der britische Seemann<lb/>
der erste in Europa, und noch immer und trotz mancher Einreden beherrscht<lb/>
Britannien die See.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_886" next="#ID_887"> Möglich ist, daß die Zukunft hierin manches ändert, gewiß, daß der<lb/>
Charakter Cherbourgs nicht defensiv, sondern aggressiv ist. Seine Anlagen<lb/>
sind viel zu großartig, um zu den Erfordernissen einer bloßen Vertheidigung<lb/>
gegen eine fremde Flotte oder Armee im Verhältniß zu stehen. Wer sich eine<lb/>
richtige Ansicht über die wirkliche Bedeutung Cherbourgs für die Zukunft bil¬<lb/>
den will, mag Thiers über Napoleons Vorbereitungen zu einer Landung in<lb/>
England von Boulogne aus lesen. Napoleons Hauptklage war bei dieser<lb/>
Gelegenheit, daß es ihm an geräumigen Hafen fehlte, in denen er seine Vor¬<lb/>
bereitungen unter dem Schutze einer großen Armee treffen konnte. Cherbourg<lb/>
ist erbaut, um diesem Mangel abzuhelfen. Seine Rhede kann einer größern<lb/>
Flotte, als Frankreich je eine besessen, Zuflucht gewähren und dazu noch die<lb/>
Transportschiffe ausnehmen, welche zur Beförderung von hunderttausend Mann<lb/>
nebst Pferden, Geschützen und Gepäck sür einen Feldzug nöthig sind. Auf<lb/>
dem Lande stehen ungeheure Kasernen, andere sind im Bau begriffen, und<lb/>
die Umgegend gibt Raum genug, um an verschiedenen passenden Orten Feld¬<lb/>
lager zu errichten.  Wie sehr man daher auch den Gedanken verwerfen mag,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] nicht mehr außer dem Bereich zerstörender Geschosse, die aus der Entfernung einer halben Meile abgefeuert werden. Fragen wir jetzt, was England von Cherbourg zu fürchten hat, so ist die Antwort: für die Gegenwart sicher nichts und am wenigsten einen Ueberfall mit einer Jnvasionsarmee. Die Festungswerke sind, wie erwähnt, nur zum Theil vollendet. Es gibt nur eine Eisenbahn, die nach der Stadt führt, und diese hat bis jetzt nur ein Geleis. Ein Zug von tausend Passagieren ist schon ein ungewöhnlich starker, und die Fahrt zwischen Cherbourg und Paris nimmt zehn Stunden in Anspruch. Die drei Hafenbecken der Militärstadt zeigen allerdings eine große Strecke von Kai, an der gegen fünfzig Dampfer zu glei¬ cher Zeit Truppen einnehmen könnten, aber schließlich würden die Schiffe doch allesammt durch denselben engen Paß in See gehen müssen, und so erhebt sich ein zweiter gegründeter Einwurf gegen die Möglichkeit einer Ueberraschung Englands durch eine an seiner Küste lautende französische Armee. Aber sei dem wie ihm wolle, England hat kein Recht, mit Frankreich über das zu grollen, was dieses an seiner eignen Küste zu thun beliebt, ebenso wenig Recht als Frankreich zum Einspruch hätte, wenn man jetzt eine tüchtige Kanaiflotte in England für Bedürfniß hielte. Im Hinblick auf eine solche Flotte, die ruhig aber stolz zwischen Plymouth und Portsmouth sich von den Wogen schau¬ keln ließe, könnten die Unterthanen der Königin Victoria so gelassen nach der Küste der Normandie hinüberblicken, als ob der Sieg von Kap La Hogue erst gestern erfochten worden wäre. Denn noch immer ist der britische Seemann der erste in Europa, und noch immer und trotz mancher Einreden beherrscht Britannien die See. Möglich ist, daß die Zukunft hierin manches ändert, gewiß, daß der Charakter Cherbourgs nicht defensiv, sondern aggressiv ist. Seine Anlagen sind viel zu großartig, um zu den Erfordernissen einer bloßen Vertheidigung gegen eine fremde Flotte oder Armee im Verhältniß zu stehen. Wer sich eine richtige Ansicht über die wirkliche Bedeutung Cherbourgs für die Zukunft bil¬ den will, mag Thiers über Napoleons Vorbereitungen zu einer Landung in England von Boulogne aus lesen. Napoleons Hauptklage war bei dieser Gelegenheit, daß es ihm an geräumigen Hafen fehlte, in denen er seine Vor¬ bereitungen unter dem Schutze einer großen Armee treffen konnte. Cherbourg ist erbaut, um diesem Mangel abzuhelfen. Seine Rhede kann einer größern Flotte, als Frankreich je eine besessen, Zuflucht gewähren und dazu noch die Transportschiffe ausnehmen, welche zur Beförderung von hunderttausend Mann nebst Pferden, Geschützen und Gepäck sür einen Feldzug nöthig sind. Auf dem Lande stehen ungeheure Kasernen, andere sind im Bau begriffen, und die Umgegend gibt Raum genug, um an verschiedenen passenden Orten Feld¬ lager zu errichten. Wie sehr man daher auch den Gedanken verwerfen mag,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/325>, abgerufen am 03.07.2024.