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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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wie gut uns dies gelingen mag, die alte, in naiver Knabenzeit von uns ge¬
schaffne Welt wird bei denen wenigstens, in welchen die Phantasie reger als
der Verstand ist, und in einzelnen Dingen selbst beim Verstand der Verstän¬
digsten, in tausend kleinen Sprossen wieder aufgrünen und sich an die Stelle
des wissenschaftlich Berechtigten setzen. Wer sich dessen aber bewußt wird und
sich dagegen zur Wehre stellt, verfällt im Eifer der Vertheidigung leicht in die
Stimmung, wo er das Kind mit dem Bade ausschüttet und nicht nur im -
heutigen Hellas zu wenig mehr vom alten sieht, sondern auch diesem alten
zu viel von dem nimmt, worin man gewöhnlich seine Eigenthümlichkeit
erblickt.

So werden die folgenden Aufzeichnungen Vielen zwar nichts wesentlich
Neues bieten, Manchen aber an Manches erinnern, was ihm zeitweilig in
Vergessenheit geriet!) oder sich ihm zum mindesten verdunkelte. Sie sind nach
den Blättern eines Tagebuchs geschrieben, welches während einer sechswöchent¬
lichen Reise durch einige Landschaften Nordgriechenlands und den größten
Theil des Peloponnes geführt wurde, und dessen letzte Seite das Datum des
18. Juni dieses Jahres trägt. Wir beginnen mit dieser Schlußseite, da sie
das, was der Verfasser mit heimbrachte, in ein Gesammtbild zusammenlegt,
welches den Unterschied zwischen dem vorhin ausgestellten Phantasiegemälde
und der Wirklichkeit mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen zu lassen geeignet
scheint. --

"Wie viel doch der Überraschungen und Enttäuschungen sind, die einem
aus dieser Reise selbst bei fleißiger Vorbereitung werden! Wir sind wieder
im adriatischen Meere. Mit dem heutigen Abendroth verschwanden die letz¬
ten griechischen Inseln und Berge, und wenn ich jetzt die Fahrt als Ganzes
mir ins Gedächtniß zurückrufe, so ist mir sast, als hätte ich zu bereuen, sie
unternommen zu haben, als entspräche wenigstens der gemachte Gewinn nicht
völlig der aufgewandten Mühe und den ausgestandenen Beschwerlichkeiten.

Die ersten Bilder, die mir die Erinnerung vorschweben läßt, wenn ich,
ohne den Blick aus willkürlich herausgesuchte Namen zu richten, an den durch-
messnen Raum zurückdenke, die ersten Dinge, von denen ich in Zukunft träumen
werde, wenn der Schlaf mich nach Griechenland versetzt, haben nichts von
dem heitern," wohlthuenden Charakter, den ich dem Lande einst aufgeprägt
glaubte. Ich sehe aus der See graue Inseln auftauchen, die auch beim
Näherkommen grau bleiben, Inseln ohne Baumwuchs, ohne Anbau, ohne
Spuren der Menschenhand, wildzerkiüftet, nur mit einfarbigem niedern Ge¬
strüpp bedeckt, düster und unwirthlich trotz des sonnigen Himmels, der auf sie
herablacht. Eine kahle steinerne Welt, dürr und trostlos, nach dem Meere
hin mit schroffen Abstürzen endigend, im Innern ein Labyrinth von Kette
an Kette, Rücken an Rücken hingeschichteten Gebirgsstöcken, erhebt sich vor mir


wie gut uns dies gelingen mag, die alte, in naiver Knabenzeit von uns ge¬
schaffne Welt wird bei denen wenigstens, in welchen die Phantasie reger als
der Verstand ist, und in einzelnen Dingen selbst beim Verstand der Verstän¬
digsten, in tausend kleinen Sprossen wieder aufgrünen und sich an die Stelle
des wissenschaftlich Berechtigten setzen. Wer sich dessen aber bewußt wird und
sich dagegen zur Wehre stellt, verfällt im Eifer der Vertheidigung leicht in die
Stimmung, wo er das Kind mit dem Bade ausschüttet und nicht nur im -
heutigen Hellas zu wenig mehr vom alten sieht, sondern auch diesem alten
zu viel von dem nimmt, worin man gewöhnlich seine Eigenthümlichkeit
erblickt.

So werden die folgenden Aufzeichnungen Vielen zwar nichts wesentlich
Neues bieten, Manchen aber an Manches erinnern, was ihm zeitweilig in
Vergessenheit geriet!) oder sich ihm zum mindesten verdunkelte. Sie sind nach
den Blättern eines Tagebuchs geschrieben, welches während einer sechswöchent¬
lichen Reise durch einige Landschaften Nordgriechenlands und den größten
Theil des Peloponnes geführt wurde, und dessen letzte Seite das Datum des
18. Juni dieses Jahres trägt. Wir beginnen mit dieser Schlußseite, da sie
das, was der Verfasser mit heimbrachte, in ein Gesammtbild zusammenlegt,
welches den Unterschied zwischen dem vorhin ausgestellten Phantasiegemälde
und der Wirklichkeit mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen zu lassen geeignet
scheint. —

„Wie viel doch der Überraschungen und Enttäuschungen sind, die einem
aus dieser Reise selbst bei fleißiger Vorbereitung werden! Wir sind wieder
im adriatischen Meere. Mit dem heutigen Abendroth verschwanden die letz¬
ten griechischen Inseln und Berge, und wenn ich jetzt die Fahrt als Ganzes
mir ins Gedächtniß zurückrufe, so ist mir sast, als hätte ich zu bereuen, sie
unternommen zu haben, als entspräche wenigstens der gemachte Gewinn nicht
völlig der aufgewandten Mühe und den ausgestandenen Beschwerlichkeiten.

Die ersten Bilder, die mir die Erinnerung vorschweben läßt, wenn ich,
ohne den Blick aus willkürlich herausgesuchte Namen zu richten, an den durch-
messnen Raum zurückdenke, die ersten Dinge, von denen ich in Zukunft träumen
werde, wenn der Schlaf mich nach Griechenland versetzt, haben nichts von
dem heitern," wohlthuenden Charakter, den ich dem Lande einst aufgeprägt
glaubte. Ich sehe aus der See graue Inseln auftauchen, die auch beim
Näherkommen grau bleiben, Inseln ohne Baumwuchs, ohne Anbau, ohne
Spuren der Menschenhand, wildzerkiüftet, nur mit einfarbigem niedern Ge¬
strüpp bedeckt, düster und unwirthlich trotz des sonnigen Himmels, der auf sie
herablacht. Eine kahle steinerne Welt, dürr und trostlos, nach dem Meere
hin mit schroffen Abstürzen endigend, im Innern ein Labyrinth von Kette
an Kette, Rücken an Rücken hingeschichteten Gebirgsstöcken, erhebt sich vor mir


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[0172] wie gut uns dies gelingen mag, die alte, in naiver Knabenzeit von uns ge¬ schaffne Welt wird bei denen wenigstens, in welchen die Phantasie reger als der Verstand ist, und in einzelnen Dingen selbst beim Verstand der Verstän¬ digsten, in tausend kleinen Sprossen wieder aufgrünen und sich an die Stelle des wissenschaftlich Berechtigten setzen. Wer sich dessen aber bewußt wird und sich dagegen zur Wehre stellt, verfällt im Eifer der Vertheidigung leicht in die Stimmung, wo er das Kind mit dem Bade ausschüttet und nicht nur im - heutigen Hellas zu wenig mehr vom alten sieht, sondern auch diesem alten zu viel von dem nimmt, worin man gewöhnlich seine Eigenthümlichkeit erblickt. So werden die folgenden Aufzeichnungen Vielen zwar nichts wesentlich Neues bieten, Manchen aber an Manches erinnern, was ihm zeitweilig in Vergessenheit geriet!) oder sich ihm zum mindesten verdunkelte. Sie sind nach den Blättern eines Tagebuchs geschrieben, welches während einer sechswöchent¬ lichen Reise durch einige Landschaften Nordgriechenlands und den größten Theil des Peloponnes geführt wurde, und dessen letzte Seite das Datum des 18. Juni dieses Jahres trägt. Wir beginnen mit dieser Schlußseite, da sie das, was der Verfasser mit heimbrachte, in ein Gesammtbild zusammenlegt, welches den Unterschied zwischen dem vorhin ausgestellten Phantasiegemälde und der Wirklichkeit mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen zu lassen geeignet scheint. — „Wie viel doch der Überraschungen und Enttäuschungen sind, die einem aus dieser Reise selbst bei fleißiger Vorbereitung werden! Wir sind wieder im adriatischen Meere. Mit dem heutigen Abendroth verschwanden die letz¬ ten griechischen Inseln und Berge, und wenn ich jetzt die Fahrt als Ganzes mir ins Gedächtniß zurückrufe, so ist mir sast, als hätte ich zu bereuen, sie unternommen zu haben, als entspräche wenigstens der gemachte Gewinn nicht völlig der aufgewandten Mühe und den ausgestandenen Beschwerlichkeiten. Die ersten Bilder, die mir die Erinnerung vorschweben läßt, wenn ich, ohne den Blick aus willkürlich herausgesuchte Namen zu richten, an den durch- messnen Raum zurückdenke, die ersten Dinge, von denen ich in Zukunft träumen werde, wenn der Schlaf mich nach Griechenland versetzt, haben nichts von dem heitern," wohlthuenden Charakter, den ich dem Lande einst aufgeprägt glaubte. Ich sehe aus der See graue Inseln auftauchen, die auch beim Näherkommen grau bleiben, Inseln ohne Baumwuchs, ohne Anbau, ohne Spuren der Menschenhand, wildzerkiüftet, nur mit einfarbigem niedern Ge¬ strüpp bedeckt, düster und unwirthlich trotz des sonnigen Himmels, der auf sie herablacht. Eine kahle steinerne Welt, dürr und trostlos, nach dem Meere hin mit schroffen Abstürzen endigend, im Innern ein Labyrinth von Kette an Kette, Rücken an Rücken hingeschichteten Gebirgsstöcken, erhebt sich vor mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/172>, abgerufen am 26.06.2024.