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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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über den Verdacht, wie sollte sie bei einer noch genauern Kenntniß der
Thatsachen nicht zugleich die ganze Schuldfrage definitiv entscheiden? Man
bestimmte also den Angeklagten, sich gutwillig dem Spruch der Jury zu unter¬
werfen oder zwang ihn nöthigenfalls dazu durch hartes Gefängniß und eine
Art Folter (xenclere loro et aure); sorgte durch ein ausgedehntes Ver-
wersungsrecht des Verklagten dafür, daß die Urtheilsjury und die Anklagcjury
aus ganz verschiednen Personen bestanden und führte dann vor diesen ein
angemessenes Verfahren mit Zeugenverhör :c. ein, welches ihnen die Ueber¬
zeugung von Schuld oder Nichtschuld des Verklagten schaffen konnte. Ein
bestimmtes Jahr, in welchem diese Verändrung sich vollzog, läßt sich nicht an¬
geben. Jedenfalls aber reichen diese Grundwurzeln der heutigen englischen
Urtheilsjury durch 600 Jahre zurück in den Boden der englischen Geschichte,
und der echt germanische Typus ihres Wesens läßt sich immer noch deutlich
erkennen, wenn auch die Fortbildung zu der heutigen Gestalt nicht sowol
das Werk des instinctiv schaffenden germanischen Volksgeistes, als einer bald
sicher, bald unschlüssig, immer aber bewußt eingreifenden Gesetzgebung war.
Erst durch die Parlamentsacte v. 22. Juni 1825 wurden die vielfachen
Statute, welche durch mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch mit oft
widersprechenden Bestimmungen über die Geschwornengerichte und namentlich
über ihre Bildung gegeben worden waren, gesammelt und in Einklang
gebracht, so daß heute etwa Folgendes gilt: Jeder in der Grafschaft woh¬
nende, unbescholtene und 21 Jahr alte Engländer, der als Grundeigen¬
thümer 10 Pf. Se., als Pächter oder Miether eines mäßigen Hauses
20. Pfd. Se. Einkommen hat, weder Diener oder Tagelöhner ist, noch seiner
sonstigen Stellung nach, sei es gesellschaftlicher, sei es politischer, vom Gesetz
als Ausnahme bezeichnet ist, hat das Recht und die Pflicht Geschworner zu
sein. Von den so qualificirten Personen fertigen die Kirchenvorsteher und
Armeninspectoren so öffentlich, daß jeder unrechtmäßig Ucbergangne vor den
eigens dazu versammelten Friedensrichtern seine Beschwerde anbringen kann,
Urlisten, aus denen der Kreissecretär die Grafschaftsliste zusammenstellt. Dar¬
aus wählt der Sheriff, den seine unabhängige und angesehene Stellung bei
einiger Bekanntschaft in dem Bezirk vorzüglich zu dieser Function empfiehlt, 48--
72 Personen für jede Assise aus, und von diesen werden durch das Loos, ver¬
bunden mit einem ausgedehnten Verwerfungsrecht des Angeklagten. 12 für den
einzelnen Fall als Jury constituirt. die nach gewissenhafter Ueberzeugung die
Schuldfrage zu entscheiden hat und so lange in strengem Gewahrsam gehalten
wird, bis sie dieses mit einstimmigem Verbiet gethan hat. Von Hungern
und Dursten während dieses Gewahrsams, wenn es ja einmal vorkommt,
daß die Geschwornen sich nicht gleich einigen können, ist übrigens lange nicht
mehr die Rede, sondern jeder erhält -- auf seine Kosten freilich -- eine sehr


über den Verdacht, wie sollte sie bei einer noch genauern Kenntniß der
Thatsachen nicht zugleich die ganze Schuldfrage definitiv entscheiden? Man
bestimmte also den Angeklagten, sich gutwillig dem Spruch der Jury zu unter¬
werfen oder zwang ihn nöthigenfalls dazu durch hartes Gefängniß und eine
Art Folter (xenclere loro et aure); sorgte durch ein ausgedehntes Ver-
wersungsrecht des Verklagten dafür, daß die Urtheilsjury und die Anklagcjury
aus ganz verschiednen Personen bestanden und führte dann vor diesen ein
angemessenes Verfahren mit Zeugenverhör :c. ein, welches ihnen die Ueber¬
zeugung von Schuld oder Nichtschuld des Verklagten schaffen konnte. Ein
bestimmtes Jahr, in welchem diese Verändrung sich vollzog, läßt sich nicht an¬
geben. Jedenfalls aber reichen diese Grundwurzeln der heutigen englischen
Urtheilsjury durch 600 Jahre zurück in den Boden der englischen Geschichte,
und der echt germanische Typus ihres Wesens läßt sich immer noch deutlich
erkennen, wenn auch die Fortbildung zu der heutigen Gestalt nicht sowol
das Werk des instinctiv schaffenden germanischen Volksgeistes, als einer bald
sicher, bald unschlüssig, immer aber bewußt eingreifenden Gesetzgebung war.
Erst durch die Parlamentsacte v. 22. Juni 1825 wurden die vielfachen
Statute, welche durch mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch mit oft
widersprechenden Bestimmungen über die Geschwornengerichte und namentlich
über ihre Bildung gegeben worden waren, gesammelt und in Einklang
gebracht, so daß heute etwa Folgendes gilt: Jeder in der Grafschaft woh¬
nende, unbescholtene und 21 Jahr alte Engländer, der als Grundeigen¬
thümer 10 Pf. Se., als Pächter oder Miether eines mäßigen Hauses
20. Pfd. Se. Einkommen hat, weder Diener oder Tagelöhner ist, noch seiner
sonstigen Stellung nach, sei es gesellschaftlicher, sei es politischer, vom Gesetz
als Ausnahme bezeichnet ist, hat das Recht und die Pflicht Geschworner zu
sein. Von den so qualificirten Personen fertigen die Kirchenvorsteher und
Armeninspectoren so öffentlich, daß jeder unrechtmäßig Ucbergangne vor den
eigens dazu versammelten Friedensrichtern seine Beschwerde anbringen kann,
Urlisten, aus denen der Kreissecretär die Grafschaftsliste zusammenstellt. Dar¬
aus wählt der Sheriff, den seine unabhängige und angesehene Stellung bei
einiger Bekanntschaft in dem Bezirk vorzüglich zu dieser Function empfiehlt, 48—
72 Personen für jede Assise aus, und von diesen werden durch das Loos, ver¬
bunden mit einem ausgedehnten Verwerfungsrecht des Angeklagten. 12 für den
einzelnen Fall als Jury constituirt. die nach gewissenhafter Ueberzeugung die
Schuldfrage zu entscheiden hat und so lange in strengem Gewahrsam gehalten
wird, bis sie dieses mit einstimmigem Verbiet gethan hat. Von Hungern
und Dursten während dieses Gewahrsams, wenn es ja einmal vorkommt,
daß die Geschwornen sich nicht gleich einigen können, ist übrigens lange nicht
mehr die Rede, sondern jeder erhält — auf seine Kosten freilich — eine sehr


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[0132] über den Verdacht, wie sollte sie bei einer noch genauern Kenntniß der Thatsachen nicht zugleich die ganze Schuldfrage definitiv entscheiden? Man bestimmte also den Angeklagten, sich gutwillig dem Spruch der Jury zu unter¬ werfen oder zwang ihn nöthigenfalls dazu durch hartes Gefängniß und eine Art Folter (xenclere loro et aure); sorgte durch ein ausgedehntes Ver- wersungsrecht des Verklagten dafür, daß die Urtheilsjury und die Anklagcjury aus ganz verschiednen Personen bestanden und führte dann vor diesen ein angemessenes Verfahren mit Zeugenverhör :c. ein, welches ihnen die Ueber¬ zeugung von Schuld oder Nichtschuld des Verklagten schaffen konnte. Ein bestimmtes Jahr, in welchem diese Verändrung sich vollzog, läßt sich nicht an¬ geben. Jedenfalls aber reichen diese Grundwurzeln der heutigen englischen Urtheilsjury durch 600 Jahre zurück in den Boden der englischen Geschichte, und der echt germanische Typus ihres Wesens läßt sich immer noch deutlich erkennen, wenn auch die Fortbildung zu der heutigen Gestalt nicht sowol das Werk des instinctiv schaffenden germanischen Volksgeistes, als einer bald sicher, bald unschlüssig, immer aber bewußt eingreifenden Gesetzgebung war. Erst durch die Parlamentsacte v. 22. Juni 1825 wurden die vielfachen Statute, welche durch mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch mit oft widersprechenden Bestimmungen über die Geschwornengerichte und namentlich über ihre Bildung gegeben worden waren, gesammelt und in Einklang gebracht, so daß heute etwa Folgendes gilt: Jeder in der Grafschaft woh¬ nende, unbescholtene und 21 Jahr alte Engländer, der als Grundeigen¬ thümer 10 Pf. Se., als Pächter oder Miether eines mäßigen Hauses 20. Pfd. Se. Einkommen hat, weder Diener oder Tagelöhner ist, noch seiner sonstigen Stellung nach, sei es gesellschaftlicher, sei es politischer, vom Gesetz als Ausnahme bezeichnet ist, hat das Recht und die Pflicht Geschworner zu sein. Von den so qualificirten Personen fertigen die Kirchenvorsteher und Armeninspectoren so öffentlich, daß jeder unrechtmäßig Ucbergangne vor den eigens dazu versammelten Friedensrichtern seine Beschwerde anbringen kann, Urlisten, aus denen der Kreissecretär die Grafschaftsliste zusammenstellt. Dar¬ aus wählt der Sheriff, den seine unabhängige und angesehene Stellung bei einiger Bekanntschaft in dem Bezirk vorzüglich zu dieser Function empfiehlt, 48— 72 Personen für jede Assise aus, und von diesen werden durch das Loos, ver¬ bunden mit einem ausgedehnten Verwerfungsrecht des Angeklagten. 12 für den einzelnen Fall als Jury constituirt. die nach gewissenhafter Ueberzeugung die Schuldfrage zu entscheiden hat und so lange in strengem Gewahrsam gehalten wird, bis sie dieses mit einstimmigem Verbiet gethan hat. Von Hungern und Dursten während dieses Gewahrsams, wenn es ja einmal vorkommt, daß die Geschwornen sich nicht gleich einigen können, ist übrigens lange nicht mehr die Rede, sondern jeder erhält — auf seine Kosten freilich — eine sehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/132>, abgerufen am 26.06.2024.